Jean-Daniel Ruch ist ein Diplomat alter Schule. Der breit gebildete Schweizer französischer Zunge aus dem Berner Jura wurde vor einem guten Jahr im Zuge einer Schmutzkampagne gegen ihn fallengelassen. Er war als Staatssekretär für Sicherheitspolitik vorgesehen. Dann berichteten die Medien plötzlich von angeblichen Sexeskapaden und über Bettgeschichten mit Spioninnen. Beweise gab es keine.
Aber trotzdem: Die Verteidigungsministerin, Bundesrätin Viola Amherd, entließ ihren Spitzendiplomaten umgehend. Ruchs Umfeld vermutet eine gezielte Verleumdungskampagne der Freunde einer Schweizer NATO-Annäherung, um ihn als Staatssekretär zu verhindern.
Sein Credo: Mit allen Seiten reden, ihre Position verstehen, ohne sich diese zu eigen zu machen – auch wenn es unpopulär ist. Er steht für eine offene und dialogbereite Schweizer Diplomatie. Nach seinem Buch, über das wir hier berichtet haben, war klar, dass man wieder von ihm hören wird. Nun ist es so weit.
Auf der Westschweizer Plattform Bon pour la tête, die von erfahrenen Journalisten wie Jacques Pilet geprägt wird, zeichnet er nun das Bild der Türkei, die sich nicht mehr einfach als NATO-Mitglied sieht, sondern sich als aufstrebende globale Macht positioniert.
Die Einnahme von Damaskus durch die islamistische Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) am 8. Dezember habe die Aufmerksamkeit der Welt auf eine weitere bedeutende Akteurin auf der geopolitischen Bühne gelenkt: die Türkei, schreibt Ruch. Drei Tage später habe der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Abkommen zwischen Somalia und Äthiopien vermittelt, das die strategischen Ambitionen Ankaras unterstreichen würde. Die Türkei möchte sich als Schlüsselspieler in einer multipolaren Weltordnung etablieren und dabei auf die historischen Grenzen des Osmanischen Reiches zurückgreifen.
Die Türkei spielt ihre Rolle in Syrien geschickt herunter, doch die Indizien sprechen eine andere Sprache. Seit der Schlacht um Aleppo 2016, die zugunsten der Assad-Regierung ausging, hat sich die HTS mit Unterstützung über die türkische Grenze hinweg zu einer schlagkräftigen Miliz entwickelt. Ankara, offiziell um humanitäre Hilfe bemüht, stellte strategische Unterstützung bereit. Die jüngsten Entwicklungen – darunter der symbolträchtige Besuch von Ibrahim Kalin, dem Chef des türkischen Geheimdienstes, in der Umayyaden-Moschee in Damaskus – unterstreichen die Bedeutung, die Ankara diesem Erfolg beimisst.
Doch damit nicht genug: Die Türkei hat bereits Pläne, die kurdischen Milizen, die eng mit der PKK verbunden sind, aus dem Nordosten Syriens zu vertreiben. Diese Gebiete sind reich an Rohstoffen und genießen den Schutz der USA. Die Türkei nutzt wirtschaftliche und militärische Mittel, um diese Vorhaben trotz innenpolitischer Herausforderungen voranzutreiben.
Obwohl die türkische Wirtschaft von hoher Inflation und Energieabhängigkeit geprägt ist, hat Ankara massiv in seine Verteidigungsindustrie investiert. 2023 stiegen die Waffenexporte um 25 Prozent. Doch ebenso wichtig ist die Diplomatie. Erdogan führt mit beeindruckender Flexibilität Gespräche sowohl mit westlichen als auch mit östlichen Mächten. So lieferte er etwa Drohnen an die Ukraine und schloss gleichzeitig milliardenschwere Atomkraft-Deals mit Russland ab.
Während die HTS in Syrien Siege feierte, traf sich der türkische Außenminister Hakan Fidan mit Vertretern Russlands und Irans in Katar – eine klare Demonstration von Ankaras Fähigkeit, militärische Erfolge und diplomatische Beziehungen geschickt zu kombinieren.
Die Türkei beschränkt ihre Ambitionen nicht auf Syrien. Erdogan verfolgt eine 360-Grad-Außenpolitik, die von Afrika bis Zentralasien reicht. Die Normalisierung in Syrien könnte beispielsweise den Weg für einen strategischen Pipelinebau von Katar nach Europa ebnen – durch die Türkei. Auch in Afrika, wie das jüngste Abkommen zwischen Äthiopien und Somalia zeigt, ist Ankara aktiv.
Selbst in China sucht die Türkei strategische Vorteile. Hakan Fidan besuchte als erster NATO-Außenminister das autonome Gebiet Xinjiang, ein Signal an Peking und die dortigen Uiguren, die kulturelle und historische Verbindungen zur Türkei haben.
Erdogan und seine engsten Vertrauten – Ibrahim Kalin und Hakan Fidan – verfolgen eine langfristige Vision. Sie verbinden eine tief verwurzelte Spiritualität mit dem Wunsch, die osmanische Vergangenheit in einer neuen, modernen Form wiederzubeleben. Diese Geduld und Entschlossenheit verschaffen der Türkei einen strategischen Vorteil gegenüber vielen westlichen Staaten.
Mit der Publikation seines Buches «The World is Bigger Than Five» fordert Erdogan eine Reform des UN-Sicherheitsrates. Ohne es explizit zu sagen, verdeutlicht er, dass die Türkei eine zentrale Rolle in der neuen Weltordnung spielen will.
Die Türkei unter Erdogan hat ehrgeizige Pläne, die über die Wiederherstellung der osmanischen Glorie hinausgehen. Sie strebt danach, ein globaler Akteur zu sein, der durch Diplomatie und militärische Macht Einfluss nimmt, schreibt Ruch. Während westliche Staaten häufig mit kurzfristigen politischen Zielen beschäftigt sind – ein diplomatischer Hinweis von Ruch auf seinen ehemaligen Arbeitgeber - , verfolgt Ankara eine Strategie, die historische Tiefe, ideologische Entschlossenheit und pragmatischen Opportunismus vereint, schließt der ehemalige Diplomat.
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