«Protestdemonstration» stand in großen Lettern auf dem Transparent, das am 4. November 1989 an der Spitze eines Demonstrationszuges durch das Zentrum der DDR-Hauptstadt Berlin getragen wurde. Dazu aufgerufen hatten Künstler und Kulturschaffende des Landes, Schriftsteller und Wissenschaftler. Dem Aufruf folgten Hunderttausende, die auf der Abschlusskundgebung am Alexanderplatz 26 Rednerinnen und Rednern sowie vier Liedermachern zuhörten.
Mit zahlreichen klaren Forderungen und phantasievollen Sprüchen gaben die Teilnehmer dem Verlangen nach politischen Veränderungen in der DDR Ausdruck. Mit Beifall oder dem klaren Gegenteil in Form von Buh-Rufen und Pfiffen bedachten sie, was sie zu hören bekamen – so unter anderem von den Schriftstellern Christa Wolf, Christoph Hein und Stefan Heym, vom langjährigen Staatssicherheits-General Markus Wolf, von den Schauspielern Jutta Wachowiak, Steffi Spira und Ulrich Mühe, von Jens Reich, Wissenschaftler und Mitbegründer des «Neuen Forums», von dem bürgerbewegten Pfarrer Friedrich Schorlemmer, aber auch vom Anwalt und SED-Mitglied Gregor Gysi und gar von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski.
Das war neu in der DDR, aber auch möglich geworden durch die zahlreichen anwachsenden Demonstrationen in vielen Städten bereits in den Wochen zuvor. Mit der Demonstration vorbei an der DDR-Volkskammer im inzwischen abgerissenen «Palast der Republik» zum Alexanderplatz und der dortigen Kundgebung «ging die Initiative des politischen Handelns endgültig von der Volksbewegung auf der Straße aus». Das schrieb der Historiker Hans-Herrmann Hertle in seinem 2019 erschienenen Buch «Sofort, unverzüglich – Die Chronik des Mauerfalls».
Die Süddeutsche Zeitung widmete vor fünf Jahren dem «schönsten Tag der DDR» ein ganzes Heft ihres freitäglichen Magazins dem Ereignis. Laut Autor Patrick Bauer handelte es sich dabei um «eine der größten Demonstrationen der deutschen Geschichte». Es sei der «Höhepunkt der friedlichen Revolution» gewesen, als Hunderttausende für Meinungs- und Versammlungsfreiheit auf die Straße gingen – «erstmals genehmigt von der Regierung».
Jahrzehnte später hält sich immer noch die Legende, dass an dem Tag rund 500.000 Menschen durch den Ostteil Berlins demonstrierten, unbehelligt von den Sicherheitskräften, an denen die Demonstrierenden mit Schärpen mit der Losung «Keine Gewalt» vorbeizogen. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk schrieb dazu in seinem Buch «Endspiel – Die Revolution 1989 in der DDR», dass in der Mitte Berlins gar nicht Platz für so viele Menschen sei.
Nach seiner Einschätzung waren es maximal rund 200.000 Menschen, die am 4. November 1989 demonstrierten, wenn nicht sogar weniger, wie er mit Verweis auf die Bildaufnahmen meint. Und:
«Im übrigens hätten eine halbe Million oder mehr Menschen den außerordentlich anfälligen Ostberliner Nahverkehr lahmgelegt. Eine Überlastung der Verkehrsmittel aber war nicht gegeben.»
Kowalczuk, der sich heute als Cheferklärer in Sachen DDR geriert, vermutet, dass die DDR-Hauptstadt versuchte, Leipzig den inoffiziellen Titel «Hauptstadt der Revolution» streitig zu machen. Nach seinen Angaben wuchs die Zahl der Teilnehmer an den Montagsdemonstrationen in der sächsischen Messestadt im Herbst 1989 bis auf 300.000 an.
Geist statt Faust
Nichtsdestotrotz habe es sich um «eine der größten freien Kundgebungen, die im Herbst 1989 stattfanden», gehandelt, so der Historiker. Für einen der Redner, den kürzlich verstorbenen bürgerbewegten Theologen Friedrich Schorlemmer, war der Tag ein Symbol für den gesellschaftlichen Aufbruch in der DDR gegen die Vormundschaftlichkeit, wie er mir in einem Gespräch 2019 erklärte.
Selbst jemandem wie SED-Politbüromitglied Schabowski, den Schorlemmer äußerst kritisch sah, oder Ex-MfS-Chefspion Wolf rechnete er hoch an, dass diese sich am 4. November 1989 den Demonstranten stellten. Und:
«Sie konnten runtersteigen und es tat ihnen niemand etwas und die Sicherheitsorgane sahen zu.»
Schorlemmer forderte als einer der Redner der großen Kundgebung auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz dazu auf gewaltlos zu bleiben, die Fäuste nicht einzusetzen:
«Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet stille.»
Er wandte sich nicht nur gegen die SED-Allmacht, sondern ebenso gegen Rachegedanken: «Wo persönliche Verantwortung oder Schuld vorliegt, ist strikte Gesetzlichkeit einzuhalten. Tolerieren wir nirgendwo Stimmen und Stimmungen der Vergeltung.»
Für den bürgerbewegten Pfarrer war der 4. November 1989 bedeutender als der 9. November desselben Jahres, an dem wie aus Versehen die Grenze geöffnete wurde. Der Grund für Schorlemmer:
«Ich sah ein Volk, dass eine schreckliche Diktatur hinter sich hatte, das dann auferstanden war aus Ruinen und sich der Zukunft neu zugewandt hatte und die Lehren der Geschichte wirklich ziehen wollte, dass ein solches Volk trotz dieser SED, dieser Kaderpartei, sich auf den Weg machte, diese Gesellschaft zu erneuern.»
Doch aus dieser Hoffnung, die DDR zu erneuern, wurde nicht viel. Fünf Tage später sorgte einer der Redner, SED-Funktionär Schabowski, dafür, dass die Grenze zu West-Berlin und zur BRD anders als geplant plötzlich geöffnet wurde. Zuvor noch bekam nicht nur Honecker-Nachfolger Krenz auf der Demonstration den Spott der Teilnehmenden ab.
Eine hilflose Bitte
Mit Blick auf dessen damalige «rechte Hand» stellte ein Transparent klar: «Schabowski laß die Phrasen – Berlin bleibt auf den Straßen». Der hochrangige SED-Funktionär bekam für seine Worte bei der Kundgebung Pfiffe und Buh-Rufe, so dass er nicht zu Ende reden konnte. Da half auch nicht, dass er sagte: «Ich bitte die Versammelten – hört zu und reagiert dann. Hört zu.»
Doch die Demonstranten wollten nicht mehr hören, dass Schabowski ausrief: «Vorwärts im festen Bund mit unseren sowjetischen Freunden!» und «Regen wir heute die Hände für unser Land, für einen Sozialismus, der stark macht, weil die Menschen ihnen wollen!» Die überraschende Grenzöffnung fünf Tage später, ausgelöst durch den eigenartigen Auftritt des SED-Funktionärs auf der Pressekonferenz, ist für manche eine Rache für die Abfuhr auf dem Alexanderplatz. Das dürfte aber zu den Legenden aus dem Herbst 1989 gehören.
Wenig überraschend kamen die phantasievollsten und weitreichendsten Forderungen nicht von den beteiligten SED-Mitgliedern, sondern von den Demonstranten, unter ihnen Mitglieder des «Neuen Forums» und anderer neuer Gruppierungen. Da war unter anderem auf Transparenten zu lesen: «Nehmt das Land aus Bonzenhand» oder «Staatssicherheit durch Öffentlichkeit». Immer wieder wurde die «Stasi» verbal «in die Produktion» geschickt.
Ein Plakat wies in die nahe Zukunft: «Mauer? – Weg!» Auch «Nie mehr Stalinismus» wurde gefordert, ebenso «Gegen Neo-Nazis in der DDR». «Freies Wort an jedem Ort» war zu lesen, gleichfalls, an Krenz gerichtet: «Egon – wir sind nicht die Olsenbande!» und «Macht die Volkskammer zum Krenz-Kontrollpunkt». Selbst eine «Sofortige Auftrittsgenehmigung für Udo Lindenberg», den damals beliebten Deutschrocker aus dem Westen, wurde gefordert.
Mit dem 9. November 1989 hatte sich das meiste davon von allein erledigt. Der Drang vieler aus der DDR in die Bundesrepublik schob den Reformwillen weniger hinweg. Zahlreiche der Transparente und Plakate von dem Tag vor 30 Jahren sind heute im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen.
Die Demonstration war im Vorfeld in der DDR-Bürgerbewegung nicht unumstritten. Der Rechtsanwalt Rolf Henrich, der das «Neue Forum» mitbegründete, war damals dagegen, sich zu beteiligen, wie er mir im Gespräch vor fünf Jahren sagte. Henrich hatte mit dem Buch «Der vormundschaftliche Staat» von 1989 das politische System der DDR analysiert und seziert und damit für Aufsehen gesorgt.
Angst vor Sturm auf die Mauer
Die SED-Führung unter Erich Honecker und dessen Nachfolger Krenz traute sich nicht mehr, den Anwalt wie frühere politische Gegner zu behandeln und verhaften zu lassen. Aber er wurde mit Berufsverbot belegt und das Ministerium für Staatssicherheit begann mit «Zersetzungsmaßnahmen» gegen Henrich. Die wurden sogar noch Mitte November 1989 aktualisiert, wie der Jurist in seinen Erinnerungen «Ausbruch aus der Vormundschaft» berichtete.
Wie weitgehend die noch immer machthabende SED-Führung, nun unter Krenz, versuchte, auf die Demonstration am 4. November 1989 Einfluss zu nehmen, belegte der Historiker Hertle. In seiner «Mauerfall»-Chronik schrieb er, dass das SED-Politbüro zwar die Veranstaltung genehmigt hatte. Aber die führenden Genossen hatten Angst vor den Folgen, auch vor möglichen Versuchen an dem Tag, die Berliner Mauer zu überwinden.
Krenz hatte demnach zwar festgelegt, dass die Volkspolizei nicht gegen die Demonstranten vorgehen dürfe. Aber aus Angst vor einem möglichen Mauerdurchbruch wurden laut Hertle selbst NVA-Einheiten in einen gedeckten Alarmzustand versetzt.
Der letzte SED-Chef bezog sich den Angaben nach dabei auf Hinweise vom sowjetischen KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, der ihn bei seinem Besuch drei Tage zuvor vor «einem gezielten Marsch von Demonstranten vom Alexanderplatz auf das Brandenburger Tor» am 4. November 1989 gewarnt habe.
So wurden an dem Tag bewaffnete Einheiten rund um das Brandenburger Tor stationiert. Bei Hertle ist zu lesen:
«Um eine republikweite Beteiligung zu verhindern, wurden die SED-Bezirksleitungen angewiesen, ‹Maßnahmen einzuleiten, damit die Teilnehmerzahlen von Bürgern ihrer Bezirke zur Teilnahme an der Demonstration in Berlin möglichst eingeschränkt werden›.»
Zudem seien Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und SED-Kader beauftragt worden, sich unter die Demonstranten zu mischen und zu berichten. Selbst eine «ideologische Eingreifreserve von Parteimitgliedern» sei im Palast der Republik untergebracht worden. Der SED-Spitze sei es gelungen, Politbüro-Mitglied Schabowski auf die Rednerliste der Abschlusskundgebung zu setzen, so der Historiker. In seinem Buch schrieb er:
«Von den Fenstern des ZK-Gebäudes mussten Politbüro-Mitglieder und ZK-Mitarbeiter am nächsten Morgen den wenige Hundert Meter entfernten Vorbeimarsch der Demonstranten wie aus einem Versteck beobachten, statt wie gewohnt den defilierenden Massen von der Ehrentribüne aus zuwinken zu können. Demonstration und Kundgebung wurden live im DDR-Fernsehen übertragen. Einige Politbüro-Mitglieder ergriff nackte Furcht: Rings um den Alexanderplatz versammelten sich bis 10 Uhr mehrere Hunderttausend Menschen, die Presse- und Meinungsfreiheit, Parteienvielfalt, freie Wahlen und die Abschaffung aller Privilegien der SED-Nomenklatura forderten sowie Reisefreiheit (‹Pässe für alle›, ‹Visafrei bis Hawaii›).»
Honecker-Nachfolger Krenz hatte am Vorabend Reformvorschläge eines SED-Aktionsprogramms angekündigt. Doch die blieben bereits im Denkansatz weit hinter den Forderungen der Demonstranten zurück, so Hertle.
«Einer von neun Sprechchören, der an diesem Tag nur von den Mitarbeitern der Staatssicherheit registriert wurde, lautete: ‹Deutschland – einig Vaterland›.»
Das war die Vorahnung auf den Kurs, der fünf Tage später mit der übereilten Grenzöffnung eingeleitet wurde.
Kommentare