Nicht weniger und nicht mehr als zu erklären, warum die Gesellschaft gespalten ist und wie sie da wieder rauskommt, das versucht der Philosoph und Publizist Michael Andrick in seinem neuen Buch. Er sieht die Menschen «im Moralgefängnis» verhaftet, wie es bereits der Titel sagt. Zugleich würden sie an «Moralitis» leiden, durch welche eine offene, tolerante Debatte «durch einen niveaulosen und realitätsfernen Wettstreit von Glaubensfraktionen» ersetzt worden sei.
Andrick ist derzeit mit seinem Buch, in dem er über die Ursachen und Formen der gesellschaftlichen Spaltung aufklärt, auf Lesetour. Eine der Stationen war am vergangenen Freitag Berlin. Der Kulturkreis Pankow hatte ihn ins Rudolf-Steiner-Haus eingeladen und etwa 100 Menschen kamen, um ihm zuzuhören und mit ihm zu diskutieren.
Dem Philosophen, der unter anderem regelmässig in der Berliner Zeitung veröffentlicht, gelang es, das ernste Thema mit einer Prise Humor zu vermitteln. Zugleich äusserte er sich deutlich kritisch gegenüber den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland.
Verurteilung statt Verständigung
Es gehe in seinem Buch um Moralisierung, erklärte er. Die Moralisierung werde privat, aber auch öffentlich vollzogen, durch Demagogie respektive Volksverhetzung. In der Folge komme es dazu, dass die Gesellschaft psychosozial verelende und die Demokratie unmöglich werde.
«Ein wesentliches Merkmal von Moralisierung ist immer, eine Trennung vorzunehmen von ‹uns›, den ‹Guten›, und den anderen da draussen.»
Andrick wechselte an dem Abend in Berlin zwischen vorgelesenen Textpassagen und Erläuterungen zu Grundaussagen in seinem Buch. So las er auch aus der Einleitung, in der es heisst:
«Geistige Offenheit und Toleranz kommen unserer Gesellschaft zunehmend abhanden. Die Diskussionskultur ist vergiftet. Moralische Verurteilungen treten an die Stelle der Verständigung über das Gemeinwohl.»
Ihn beschäftige die Frage nach den Ursachen dafür, ebenso die Frage danach, was jede und jeder dagegen tun könne. Er gibt jedoch keine einfachen oder bequemen Antworten, etwa wenn er schreibt:
«Spaltung entsteht nicht durch die Schuld gewisser Leute mit weit auseinanderliegenden Meinungen oder durch neuartige Kommunikationsplattformen.»
Atmosphäre von Angst und Misstrauen
Sie sei dagegen immer ein «Gemeinschaftsprodukt vieler Menschen, die bestimmte Umgangsformen pflegen und die so miteinander eine bestimmte Kultur betreiben». «Spaltung lebt vom Mitmachen», schreibt Andrick in der Einleitung.
«Und machen genügend Menschen bei spalterischen Praktiken mit, so verformt sich die private und die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft derart, dass ein zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zur selben Sache fast unmöglich wird und eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen dominiert.»
Die Folge sei eine «selbsterbaute Zwingburg», die der Philosoph als das titelgebende «Moralgefängnis» bezeichnet. In seinem Buch geht er dabei auf die Ereignisse der letzten Jahre ein, in denen sich die genannten Symptome gezeigt haben: von der Corona-Krise über die Klima-Debatte bis zum Ukraine-Krieg.
Dr. Michael Andrick am Freitag in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Im Buch wie in der Lesung fasst er das Ergebnis seiner Analyse so zusammen: «Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung.» Die Gesellschaft stecke «mitten in einer schweren Epidemie» durch das Kulturvirus «Moralin», das die unbehandelte «Moralitis» verursache.
Seine Zuhörer folgten nicht seinem Hinweis, dass sie nach dieser Aussage «eigentlich nach Hause gehen können». Sie wollten mehr hören und erfahren, warum das so ist. Das erklärte der schreibende Philosoph mit Textpassagen, zusammenfassenden Erklärungen und Antworten auf Fragen nach der Lesung.
Vergessene Binsenweisheit
Eine demokratische, offene Gesellschaft sei eigentlich durch friedliche Streitverwaltung gekennzeichnet. In ihr ist laut Andrick eine Vielfalt von Standpunkten normal. Er fragt sich, warum diese Vielfalt nun ein Problem sei.
«Es ist doch eine Binsenweisheit, dass wir nur durch abweichende Sichtweisen etwas Neues erfahren und dazulernen können. Ich will jedenfalls mit Offenheit für alle, die mir begegnen, durchs Leben gehen. Ich will unbeschwert meine Ansichten kundtun und anhören, frei diskutieren, was die anderen zu sagen haben.»
Er hat auch auf die Ähnlichkeiten zwischen der Corona-Krise und dem Ukraine-Krieg sowie deren Folgen für die gesellschaftliche Atmosphäre hingewiesen. Dazu zähle die schnelle Festlegung auf bestimmte Sprachregelungen in den «Leitmedien», wie «tückisches Virus» und «völkerrechtswidriger russischer Angriffskrieg», das Abkanzeln Andersmeinender mit moralischen Schmähbegriffen wie «Corona-Verharmloser» und «Lumpenpazifist» sowie das Aufblühen von Kontaktschuld-Vorwürfen wie «rechtsoffen» oder «Putin-Freund».
Bei beiden Krisen zeige sich sehr deutlich etwas, das er im Kapitel «Volkserziehung im Moralgefängnis» beschreibt: «die gewissermassen schon zur Institution erhobenen spalterischen Handlungsweisen». Dazu gehören aus seiner Sicht Kampagnen, um die Demokratie zu «schützen» ebenso wie die selbsternannten «Faktenchecker» in öffentlich-rechtlichen und privaten Medien, Gesetze gegen «Hass und Hetze», aber auch die Durchsetzung der «gerechten Sprache». Diese spalterischen Praktiken seien sowohl privater als auch institutioneller Natur.
Im Buch macht er auch deutlich, dass das «Regime des Moralismus» seiner Tendenz nach totalitär ist – «denn jeder Teilnehmer, ob Vollzeit- oder Teilzeit-Fundamentalist, vertritt ja nicht nur ein Interesse unter vielen, sondern das Gute.» Durch die Moralisierung würden normale Menschen zu Fundamentalisten, so Andrick.
Politische Verantwortung für Spaltung
Er betonte in Berlin, dass die beschriebene Spaltung kein Zustand sei beziehungsweise einen solchen beschreibe, sondern eine Handlung, ein Vorgang. Er machte auch klar, wer aus seiner Sicht dafür die Verantwortung trägt:
«Der Bundespräsident zum Beispiel ist der oberste Spalter der Nation, weil er beharrlich immer und immer wieder die Deutschen einteilt in vernünftige, gute, treue Bürger und die, die so suspekte andere Dinge glauben oder sagen. Und das ist ganz einfach Demagogie.»
Das sei «eine Anweisung an alle, die ungefähr das artikulieren, was der Bundespräsident so artikuliert, wie sie diejenigen auszugrenzen haben und zu bezeichnen haben, die das nicht tun», stellte der Philosoph fest. Deshalb habe Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) «die oberste Verantwortung für das spalterische Handeln in dieser Republik.»
Andrick äusserte sich auch zu den Demonstrationen «gegen rechts» in der jüngsten Zeit. Er wundere sich darüber, das in den deutschen etablierten Medien nicht darüber geschrieben werde, dass damit Menschen aufgerufen werden, für die Regierung zu demonstrieren. Das sei «ganz simpel plumpe Machtpolitik», bei der es darum gehe, «die Opposition zu diskreditieren».
Das geschehe durch «eine grosse Koalition aus den Parteien, die an den Fleischtöpfen der Macht sitzen und weiter regieren wollen». Zudem würden die Regierenden jeweils diejenigen ernennen, die die Behörden leiten, die angeblich die Verfassung schützen. Somit werde auch gesichert, dass das verfassungsfeindliche Reden und Handeln von Politikern nicht ins Visier genommen wird. Andrick riet seinen Zuhörern:
«Lassen Sie sich da nicht für dumm verkaufen. Sie sollen auf die Strasse, um für die Regierung zu demonstrieren.»
Moral als politische Waffe
Die Moralisierung verseuche das gesellschaftliche Leben «mit Unsicherheit, Misstrauen und vor allem mit Angst: Begegnungsangst. Interaktionsangst. Äusserungsangst. Assoziationsangst. Verurteilungsangst und Bestrafungsangst». Das Regime des Moralismus erzeuge eine «Monokultur der Wahrheit». Die Folgen benennt der Philosoph folgendermassen:
«Moralisierung politischer Fragen verrät eine diktatorische Auffassung von Politik, in der nur das Gute, Schöne und Rechte wie ich und meinesgleichen es erkannt haben, siegen oder aber die Welt untergehen darf.»
Damit werde die vielstimmige Debatte durch Willkür ersetzt, durch die «Abbrucharbeiter der Demokratie». Die demokratische Politik, die Interessenausgleich unter Gleichberechtigten nach transparenten Regeln bedeute, werde verleugnet. So werde die Öffentlichkeit zu dem Ort erklärt, «an dem nicht mit offenem Visier und offene Aussprache gestritten, sondern die Wahrheit gesagt, gehört und dann verwirklicht werden muss».
In der Diskussion mit dem Publikum, von dem er viel Beifall bekam, sagte Andrick, es gebe «tatsächlich Repressionen in Deutschland gegen Menschen, die deutlich dem angesagten Regierungsmainstream widersprechen und die eine allzu grosse Reichweite erreichen». Das geschehe in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Methoden.
Er verstehe die Angst vor solchen Folgen. Aber er habe für sich beschlossen, sich davon nicht bestimmen zu lassen: «Ich kann nicht aus Angst heraus leben.» Er wolle die Freiheit verteidigen, «dass ich heute hier sitze, dass dieses Buch erschienen ist, und dass wir dieses Gespräch führen».
Einer seiner Zuhörer machte darauf aufmerksam, dass sich hinter der herrschenden Moral immer Interessen verbergen. Und es handele sich bei dem, was auf die von Andrick beschriebene Weise durchgesetzt werde, um «Scheinmoral», die nichts mit Moral zu tun habe. Der Philosoph stimmte ihm mit Blick auf die Moralisierung und die damit verbundene öffentliche Demagogie zu:
«Das ist keine Moral mehr, das ist eine zur politischen Waffe gemachte Moral in Anführungsstrichen.»
Buchtipp:
Michael Andrick: Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden, Westend Verlag 2024. 160 Seiten; ISBN 978-3-864-89438-1; 18 Euro.
korrigiert am 20.2.24, 12:14
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