Anfang 2020 starteten wir ein landesweites epidemiologisches Experiment mit dem Ziel, die Sterblichkeitsrate des neuartigen SARS-CoV-2-Virus zu senken. Die Prämisse des Experiments war es, die Wirksamkeit von nicht-pharmazeutischen Interventionen auf die Infektions- und die Sterblichkeitsrate zu testen.
Die Hypothese wurde mit wenig Zweifeln präsentiert: Eine signifikante Verringerung der Interaktionen von Mensch zu Mensch wird zu einer geringeren Infektionsrate führen und die Zahl der mit dem Virus verbundenen Todesfälle reduzieren. Die wissenschaftliche Gemeinschaft war von dieser Hypothese so überzeugt, dass sie sie gar nicht als Hypothese präsentierte. Das Experiment wurde nicht als Versuch definiert; entsprechend wurden auch die daraus resultierenden Daten ignoriert.
Der Grund ist leicht zu erkennen. Angesichts unseres grundlegendsten Verständnisses über die Verbreitung von Viren sollte jede Massnahme, die die Übertragung von Viren unterdrückt, unweigerlich zu einer Verringerung der Sterblichkeit führen. Aber da wir diesen Zusammenhang noch nie in einem realen setting untersucht haben, sind Annahmen, die auf unserem «grundlegendsten Verständnis» basieren, vielleicht nicht ausreichend. Abgesehen davon geht es bei guter Wissenschaft darum, Fragen zu stellen. Wenn die Antworten unseren Annahmen widersprechen, dann sollten diese Antworten unser Verständnis verändern. ...
Der Grund für unser Zögern zu akzeptieren, dass Lockdowns und andere nicht-pharmazeutische Interventionen (NPIs) wenig bis gar keinen Einfluss auf die Sterblichkeit durch SARS-CoV-2 haben, liegt darin, dass es schwierig ist, eine Erklärung dafür zu finden. Anstatt jedoch die Beweise mangels Erklärung zu leugnen, sollten uns die Beweise dazu bringen, unser Wissen zu überdenken und es anders umzusetzen.
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Auf der mikroskopischen Ebene sind genetische Mutationen häufiger, und deshalb läuft die Evolution hier in einem beschleunigten Tempo ab. Das ist der Grund, warum Ärzte zögern, Antibiotika zu verschreiben — ihr übermässiger Einsatz könnte zur Entstehung von superbugs führen. Manche Menschen haben Mühe, diese Idee zu begreifen. Warum und wie sind Bakterien in der Lage zu mutieren, um Bedrohungen ihrer Existenz zu entgehen? Schliesslich sind sie nicht empfindungsfähig. Sie verstehen ihre Umgebung nicht und «beschliessen» nicht einfach, sich zu wehren.
In Wirklichkeit ist es aber nicht die Einführung von Antibiotika, die die Mutation von antibiotika-resistenten Bakterien anregt. Diese Mutationen geschehen ohnehin, spontan und zufällig. Es entstehen ständig neue bakterielle Varianten, und einige von ihnen sind zufälligerweise resistent gegen Antibiotika. Dies wäre auch der Fall, wenn es keine Antibiotika gäbe.
In einer Welt ohne Antibiotika haben die resistenten Mutationen keinen Vorteil gegenüber anderen bakteriellen Varianten. Sie sind eine Eintagsfliege - kurzlebig und selten. Aber wenn man Antibiotika in den Mix einführt, verschafft man den resistenten Bakterien einen Vorteil, so dass sie gedeihen, sich vermehren, dominieren und andere Bakterien verdrängen können. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig mit Antibiotika umgehen und abwägen, wann sei angemessen und notwendig sind. Antibiotika retten viele Leben, aber wenn sie unverantwortlich über einen langen Zeitraum eingesetzt werden, könnten sie eine Spezies auslöschen.
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Stellen Sie sich vor, wir würden jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft einmal im Monat Antibiotika verabreichen, um möglichen Infektionen vorzubeugen. Wahrscheinlich würden wir einen starken Rückgang der bakterienbedingten Sterblichkeit erleben, zum Beispiel bei der bakteriellen Lungenentzündung. Dieser Rückgang wäre aber nur kurzfristig. Infektiöse Bakterien würden sich schnell zu antibiotika-resistenten superbugs entwickeln, wodurch unsere präventiven Massnahmen wirkungslos würden. Dies würde eine Bedrohung für alle Menschen darstellen.
Viren und Bakterien sind gar nicht so verschieden. Genau wie Bakterien mutieren Viren spontan und zufällig, wodurch Tausende von Varianten entstehen. Die meisten dieser Mutationen haben keinen Einfluss darauf, wie das Virus mit unserem Immunsystem interagiert. Sie verleihen der jeweiligen Variante keinen wirklichen Vorteil. Einige Mutationen können jedoch die eigentliche Natur des Virus in den folgenden, wesentlichen Bereichen verändern:
- Virulenz: die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus uns ernsthaft krank macht, also zu einem erhöhten Risiko von Hospitalisierung und Tod führt;
- Übertragbarkeit: wie leicht das Virus von einer infizierten Person auf eine andere übertragen werden kann;
- Nachweisbarkeit: wie leicht das Virus durch bestimmte Testmethoden nachzuweisen ist.
Derzeit gibt es über 4000 bekannte Varianten von SARS-CoV-2. Einige dieser Viren werden weniger virulent sein als das Original; andere werden virulenter sein. Einige werden übertragbarer sein als das Original, andere weniger. Einige werden mit PCR-Tests leichter nachweisbar sein, andere weniger. All diese Faktoren verleihen den jeweiligen Varianten Vor- und Nachteile, aber das Ausmass dieser Vorteile hängt von den Eigenschaften der Umwelt ab, in der sie existieren. Zum ersten Mal wurde dieser äussere Kontext durch nicht-pharmazeutische Interventionen dramatisch verändert.
Eine Mutation, die zu erhöhter Stärke oder Intelligenz führt, ist wahrscheinlich in jeder Spezies von Vorteil. Sie wird daher im Wettbewerb dominieren und sich weiter verbreiten. In einer feindlichen Umgebung sticht der Vorteil dieser Mutationen stark heraus und die Prävalenz der vorteilhaften genetischen Varianten nimmt zu. Auf diese Art entwickeln sich Organismen weiter, um mit Bedrohungen fertig zu werden. Eine übertragbarere Variante eines Virus hat einen klaren Vorteil gegenüber einer weniger übertragbaren; aber wenn wir Druck auf das Virus ausüben, verschaffen wir den ansteckungsfähigeren Varianten einen noch grösseren Vorteil.
Stellen Sie sich zwei Länder vor, die gegeneinander Krieg führen. Eines hat Raketen mit einer Reichweite von 4000 Meilen, während das andere Raketen mit einer Reichweite von 3500 Meilen hat. Wenn die Länder nur 3000 Meilen voneinander entfernt sind, hat keines der beiden Länder einen Vorteil in dieser Auseinandersetzung. Auch wenn einige Raketen eine grössere Reichweite haben, wird es nicht wahrscheinlicher, dass sie ihr Ziel treffen.
Wenden Sie diese Logik nun auf zwei Varianten eines Virus an, von denen eine besser übertragbar ist als die andere. In einer Umgebung mit regelmässigem engem Kontakt zwischen Menschen, die sich versammeln, hat die übertragbarere Variante keinen deutlichen Vorteil gegenüber den anderen und es ist weniger wahrscheinlich, dass sie die weniger übertragbare Variante dominiert und verdrängt. Die weniger übertragbare Variante findet immer noch ihr Ziel, infiziert diese Person, macht sie krank und lässt sie (in der überwiegenden Mehrheit der Fälle) mit einer natürlichen Immunität zurück, so dass die übertragbarere Variante weniger Ziele zur Auswahl hat.
In einer Welt des social distancing, der Anweisung, zu Hause zu bleiben, der Maskenpflicht und des Verbots von Massenversammlungen unterdrücken wir zweifelsohne das Virus. Aber wir verschaffen den übertragbareren Varianten dieses Virus einen grösseren Vorteil.
Effektiv rücken wir unsere beiden kriegführenden Länder weiter auseinander, so dass nur noch die Raketen mit grösserer Reichweite ihr Ziel finden. Plötzlich ist es klar, welches der beiden Länder den Krieg gewinnen wird. Die besser übertragbaren Virusvarianten werden dominieren und die weniger übertragbaren Varianten in einem beschleunigten Tempo verdrängen. Daher könnten unsere Bemühungen, das Virus zu unterdrücken, die Evolution von NPI-resistenten Varianten beschleunigen, ähnlich wie der Einsatz von Antibiotika die Evolution von antibiotika-resistenten Bakterien beschleunigt.
Aus dem selben Grund werden einige zufällige, spontane Mutationen von SARS-CoV-2 schwerer mit PCR-Tests zu erkennen sein, zum Beispiel aufgrund von Unterschieden in ihrem Spike-Protein. Wenn wir uns auf Tests und Rückverfolgung als Mittel zur Kontrolle des Virus verlassen, dann werden die schwerer nachweisbaren Varianten einen Vorteil haben gegenüber denjenigen, die wir identifizieren können. Was dazu führt, dass schwerer identifizierbare Varianten vorherrschend werden.
Der wichtigste Aspekt ist jedoch die Virulenz. Im Kontext normalen menschlichen Verhaltens sind die Varianten, die eine höhere Virulenz erlangt haben, deutlich im Nachteil. Das liegt daran, dass wir vor 2020 nur zu Hause geblieben sind, wenn wir zu krank waren, um rauszugehen. Wenn wir ein bisschen Halsweh und eine laufende Nase hatten, gingen wir trotzdem zur Arbeit. Wir gingen trotzdem zur Schule. Wir besuchten immer noch Sportveranstaltungen, Theater, Kinos, Clubs, Rockkonzerte, Partys, Festivals, Proteste und Gottesdienste.
Dies bedeutete, dass die virulenteren Stämme, die die Menschen mit grösserer Wahrscheinlichkeit sehr krank machen, einen natürlichen Nachteil gegenüber weniger virulenten Stämmen hatten. Eben darum entwickeln sich Viren normalerweise so, dass sie mit der Zeit weniger tödlich werden: Die weniger virulenten Varianten neigen dazu, zu dominieren, weil wir sie mehr verbreiten, mehr Menschen infizieren und ihnen eine natürliche Immunität verleihen, bevor diese Menschen mit einer selteneren, virulenteren Variante in Kontakt kommen.
Nicht-pharmazeutische Interventionen haben das Spielfeld richtiggehend eingeebnet. Wenn alle Menschen zu Hause bleiben, egal wie unwohl sie sich fühlen, dann verlieren die weniger virulenten Varianten ihren Vorteil. Man könnte auch sagen, dass wir das Spielfeld überhaupt nicht ausgleichen, sondern den virulenteren Varianten einen Vorteil verschaffen. Denn während Menschen mit leichten Symptomen zu Hause bleiben, sind Menschen mit schweren Symptomen gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen und sich in eine Umgebung voller gefährdeter Menschen zu begeben: ins Krankenhaus.
Es gibt bereits einige Hinweise, die diese Theorie unterstützen: Es wird berichtet, dass die britische Variante übertragbarer und tödlicher ist, während die Südafrika-Variante die Menschen eher schwer krank macht. Ist es ein Zufall, dass die Prävalenz dieser Varianten in Ländern mit sehr strengen Pandemie-Massnahmen auftrat? Ist es ein Zufall, dass die britische Variante ausgerechnet nach einer Periode regionaler und nationaler Abriegelungen in Grossbritannien dominierte? Wenn Lockdowns der Schlüssel zum Stoppen dieser gefährlichen Mutationen sind, wo ist dann die schwedische Variante? Und wo die indische?
Die jüngste Variante in den USA wurde als «the devil» bezeichnet, da man annimmt, dass sie ansteckender ist und wahrscheinlich schwerer krank macht. Aber hat sich diese Variante in Florida oder South Dakota ausgebreitet, wo die Massnahmen lockerer sind? Nein. Sie tauchte in Kalifornien auf, nach einer anhaltenden Periode von strikten stay-at-home-Anordnungen und Geschäftsschliessungen.
Könnten diese subtilen evolutionären Mechanismen die Antwort auf das Lockdown-Rätsel sein? Ermutigen wir das Virus durch seine Eindämmung dazu, virulenter und übertragbarer zu werden? Wäre dem so, würde jeglicher positive Effekt auf die Gesamtsterblichkeitslast zunichte gemacht — dann führten unsere Interventionen selbst zur Verschlechterung der Ergebnisse.
Unterdessen zerstören diese Interventionen Lebensgrundlagen, sie beschädigen unsere Kultur, bedrohen unsere Demokratie und bringen, wie die Regierung selbst zugibt, Tausende von Menschenleben in Gefahr.
Es gibt immer noch sehr viele ungelöste Rätsel in der Virologie. Dieses globale Experiment wirft Licht auf einige dieser Geheimnisse, und wir haben eine kollektive Verantwortung, die Beweise ernst zu nehmen, die wir nun erhalten.
Wir können nicht zulassen, dass NPIs zur «neuen Normalität» werden. Sie könnten wie die verbreitete präventive Verabreichung von Antibiotika an gesunde Menschen wirken. Die wissenschaftlichen Beweise deuten darauf hin, dass unsere gewohnte Lebensweise uns schützte, das Gesundheitswesen schützte und Leben rettete — während unsere neue Lebensweise Gefahr läuft, eine neue Ära tödlicher viraler Mutationen einzuläuten, die wir weder kontrollieren noch behandeln können.
Wie in vielen Bereichen der Wissenschaft versuchen wir, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem wir die Natur (in diesem Fall unsere eigene Natur) manipulieren. Aber die Natur wird letztlich zurückschlagen. Wenn wir weiterhin Gott spielen und dabei wissenschaftliche Evidenz und Daten ignorieren, werden wir es vielleicht bald bereuen.
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Jemma Moran ist Leiterin der Kommunikationsabteilung des Health Advisory and Recovery Team (HART), einer unabhängigen Gruppe von britischen Ärzten und akademischen Experten, die daran arbeiten, die Debatte über die Covid-19-Politik auszuweiten.