Aserbaidschan meldete anfangs Monat Bombardierungen seiner Militärstellungen von armenischem Gebiet aus. Die armenische Seite dementierte diese Aussagen kategorisch und warf Baku vor, armenische Stellungen beschossen zu haben. Entsprechende Medienberichte muss man aber mit der Lupe suchen (wir haben hier und hier über diesen Konflikt berichtet. Weitere Links im zweiten Bericht).
Gleichzeitig ziehen die russischen Friedenstruppen ab und es wird wieder verhandelt. Ein Diplomat zeigte sich kurz vor dem Wochenende vorsichtig optimistisch. Wie sind diese widersprüchlichen Signale zu deuten?
Die Frage, was Aserbaidschan nun mit Bergkarabach machen wird, ist diejenige der Eingangsfragen, die einfacher zu beantworten ist.
Das Gebiet im Kaukasus (die Gegend zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer), das heute Armenien und Aserbeidschan bildet, wird seit dem Altertum von Armeniern bewohnt. Die Einwanderung der muslimischen, turksprachigen Aseris begann erst im 11. Jahrhundert. Die schlecht zugängliche Region Bergkarabach behielt bis zur letztjährigen Vertreibung der etwa 120’000 Karabach-Armenier ihren christlich-armenischen Charakter.
Im Zarenreich gab es den armenischen Oblast - das heutige Armenien, Nachitschewan und Igdir, ein Gebiet, das nach dem ersten Weltkrieg von der Türkei erobert wurde und bis dato praktisch geschlossen armenisch war.
Der am Ende des Ersten Weltkrieges gegründete armenische Staat war kurzlebig. Die Gebiete, die zum Zarenreich gehört hatten, wurden nach blutigen aserischen und türkischen Pogromen gegen die Armenier in Nachitschewan, Baku und Bergkarabach der UdSSR einverleibt.
Es entstand zum einen die armenische SSR mit Hauptstadt Eriwan. Sie entspricht weitgehend den Grenzen des heute international anerkannten Armeniens. Armenien liegt seither wie ein Sperrriegel zwischen der Türkei und seinem aserischen Brudervolk und blockiert den Türken den Weg nach Zentralasien.
Westlich davon, an der Grenze zur Türkei, liegt die aserische Enklave Nachitschewan. Im Zarenreich hatte sie zum armenischen Oblast gehört, bei den Einwohnern hielten sich Armenier und Aseris ungefähr die Waage.
Ein weiteres, praktisch geschlossen armenisches Siedlungsgebiet war seit alters her Bergkarabach. Dieses Gebiet wurde aber von den Sowjets ebenfalls nicht Armenien zugeschlagen, stattdessen wurde ihm innerhalb der aserbeidschanischen SRR eine begrenzte Autonomie zugestanden. als autonomem Oblast
Betrachten wir Nachitschewan. Heute behauptet Aserbaidschan, es gäbe keine Armenier in Nachitschewan und habe nie welche gegeben. Obwohl dokumentiert ist, dass der armenische Bevölkerungsanteil noch am Ende des Ersten Weltkriegs 40 Prozent betragen hat.
Über die folgenden Jahrzehnte wurden die Armenier Nachitschewans schikaniert, isoliert und unter Druck gesetzt. Die Bewilligung für einen Besuch in und von der Armenischen SSR wurde selten und nur für kurze Zeit bewilligt.
Deren reichhaltige kulturelle und religiöse Stätten wurden zuerst dem Verfall preisgegeben. Nach der Unabhängigkeit Aserbeidschans wurden dann Kirchen, Friedhöfe und christlichen Kreuze zerstört.
Als Beispiel erwähnt sei Dschulfa, armenisch Dschugha, seit dem 5. Jahrhundert bevölkert von armenischen Christen und Muslimen, im Mittelalter ein Handelszentrum, gelegen am Südende von Nachitschewan, unmittelbar an der Grenze zum Iran. Die Stadt geriet zwischen das osmanische Reich und Persien, der Schah liess sie niederbrennen und bot den Armeniern in Isfahan eine neue Heimstätte, wo sie bis heute leben. Zeuge der armenischen Präsenz war der Friedhof, der 2005 zerstört wurde. Die UNESCO weigerte sich, auf diese barbarische Zerstörung zu reagieren und der Vorwurf steht im Raum, dass die diskrete, aber wirksame von den Machthabern Aserbeidschans ausgehende «Kaviar-Diplomatie» dabei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Nach der Vertreibung kommt die Geschichtsfälschung.
Der Armenologe Argam Ayvazyan schaffte es, in den Jahren 1964 bis 1987 in Nachitschewan 89 bestehende Kirchen und Kathedralen zu fotografieren und zu dokumentieren, die heute nicht mehr existieren. Er zählte und dokumentierte tausende von Chatschkare (Kreuzsteine) und schätzt die Zahl der zerstörten Grabsteine auf 22’000. Augenzeugenberichte bestätigen, dass alle verbliebenen Denkmäler durch eine barbarische Zerstörungskampagne zur Auslöschung der armenischen Kultur in der Region bis zum Jahr 2008 zerstört wurden.
Im Jahre 1965 konnte Ayvazyan für kurze Zeit nach Nachitschwan reisen. Er fotografierte Kirchen, Inschriften und Chatschkare. Von aserischen Dorfbewohnern der Polizei gemeldet, wurde er festgenommen. Auf dem Posten wurde er von einem hochgewachsenen Mann befragt.
«Das war das erste Mal. Geh, und mach nie wieder so etwas. Vergiss, dass es in Nachitschewan irgendwelche armenischen Denkmäler gibt,» sagte der Mann.
Es war Heydar Aliyev, der Chef des KGB in Nachitschewan. Dieser wurde später erster Sekretär der aserbaidschanischen Sowjetrepublik, danach Präsidenten des unabhängigen Aserbaidschans. Er ist der Vater des heutigen Präsidenten Ilham Aliyev …
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was die Aseris nun in Bergkarabach planen. Und es ist auch klar, dass sie niemand dabei behindern wird.
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob sich Aserbaidschan nun zufriedengibt und ob ein dauerhafter Friede möglich ist. Die Gewichte haben sich in den letzten drei bis vier Jahren insofern dramatisch verschoben, als Russland, der traditionelle Bündnispartner der Armenier, dieses Land bei den beiden Kriegen um Bergkarabach schmählich im Stich liess. In diesen Tagen verlassen die letzten Friedenstruppen die praktisch menschenleere Region Bergkarabach. Dass Armenien erstmals mit den USA eine Militärübung durchführte, hat den Kreml zusätzlich verärgert. Gleichzeitig entwickelt sich Armenien immer mehr zum Zufluchtsort von Menschen, die Russland dauerhaft verlassen wollen – sei es, um dem Kriegsdienst zu entfliehen, sei es aus politischen Gründen. Nach Armenien können sie immer noch visumsfrei einreisen.
Russland braucht nun Aserbaidschan. Über dieses Land kann es seine Rohstoffe weiterhin weltweit verkaufen. Der Westen braucht Aserbaidschan, um Öl und Gas zu beziehen. Ob dies aus eigener Produktion kommt? Oder indirekt aus Russland? Das weiss keiner so genau. Und die Türkei braucht Aserbaidschan und ist daran, mit diesem Land und den zentralasiatischen Republiken einen Block von Ländern zu bilden, die rohstoffreich sind und gleichzeitig den Landweg von und nach China kontrollieren.
Dazwischen liegt – Armenien. Seit dem Ende des Kalten Krieges und der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken sind die Grenzen zwischen Armenien und der Türkei sowie Aserbaidschan geschlossen. Güter müssen den Umweg über den Iran oder Georgien nehmen.
Das Land liegt strategisch wichtig zwischen der Türkei, Aserbaidschan, Georgien und dem Iran. Für Waren aus China und Zentralasien sowie Rohstoffe aus Russland und Aserbaidschan wäre ein Weg über Armenien ein enormer Vorteil. Das ist der Trumpf Armeniens.
Aserbaidschan will diesen direkten Weg. Die Frage ist, ob Diktator Aliyev bereit ist, dafür noch einmal einen Waffengang zu riskieren, ob der Westen ihm diesen Zugriff auf unbestritten völkerrechtlich Armenien zustehendes Gebiet durchgehen lassen will, oder ob er an einer friedlichen Lösung interessiert ist. Das würde unsere zweite Frage beantworten. Aliyev hat wiederholt die Drohung ausgestossen, eine Landverbindung zu Nachitschewan und damit zur Türkei notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Ob das realistisch ist, darüber gehen die Einschätzungen der armenischen Politologen weit auseinander.
Aber warum kann eine solche Lösung nicht auf dem Verhandlungsweg erreicht werden? Offenbar finden genau solche Verhandlungen im Moment statt.
«Wir sind ganz nah an einem Friedensabkommen», lässt sich der armenische Botschafter in Deutschland zitieren.
Gewisse Massnahmen sind schon umgesetzt, der Gefangenenaustausch ist zum Beispiel abgeschlossen. Armenien ist in diesem Prozess bereit, die Grenzen für den Strassen und Eisenbahnverkehr zu öffnen. Davon würden alle profitieren. Auch die bislang geschlossenen Grenzen mit der Türkei könnten geöffnet werden.
Die Regierung Armeniens schlägt den Ausbau der Verkehrsverbindungen zwischen Armenien, der Türkei, Aserbaidschan, Georgien und dem Iran vor durch Strassen, Eisenbahnen, Pipelines, Kabel und Stromleitungen.
«Die Reaktivierung dieser Strassen würde eine kurze und effiziente Verbindung zwischen dem Kaspischen Meer und dem Mittelmeer sowie dem Persischen Golf und dem Schwarzen Meer schaffen», sagt der Botschafter.»
Und dann kommt das grosse «Aber»:
«Alle Infrastrukturen, einschliesslich Strassen, Eisenbahnen, Fluglinien, Pipelines, Kabel und Stromleitungen, unterliegen der Souveränität und Gerichtsbarkeit der Länder, durch die sie verlaufen.»
Das ist im Moment die rote Linie Armeniens. Während die Aseris längere Zeit einen exterritorialen Korridor forderten, ist Armenien nicht bereit, diesen zu gewähren. Armenien bietet eine umfassende Verkehrsdrehscheibe an, könnte diese aber dann auch wieder schliessen, falls es die Situation erfordert. Für Armenien winken Transitgebühren und Einnahmen entlang der Verkehrsachsen. Aber Armenien würde nur dann profitieren, wenn Aserbaidschan wirklich Frieden will.
Natürlich sind noch viele Fragen, zum Beispiel die Finanzierung, ungeklärt. Aber die Hauptfrage ist: Will Baku das? Wird Aserbaidschan auf dieses Angebot eingehen? Die Zukunft wird es zeigen.
Für Armenien ist ein solcher Prozess schmerzlich. Die Annäherung an den Westen ist psychologisch schwierig, weil es dieser Westen war, der den Aseris den Bruch ungefähr jeder Regel des Völkerrechts durchgehen liess und Baku bisher nie in Schranken wies.
Eine Entspannung oder sogar ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan dürfte nur möglich sein, wenn die armenische Gesellschaft sich damit abfindet, dass eine Rückkehr nach Bergkarabach in absehbarer Zeit nicht möglich ist und in diesem Gebiet das gleiche passiert wie in Nachitschewan.
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