Alonso Álvarez de Toledo (Jahrgang 1931) war von 1985 bis 1990 der letzte spanische Botschafter in der DDR. Er spielte zuvor eine wichtige Rolle beim demokratischen Übergang Spaniens nach dem Tod von Diktator Francisco Franco und führte sein Land in die NATO. In seinem Tagebuch «En el país que nunca existió. Diario del último embajador español en la RDA», erstmals 1990 veröffentlicht, berichtete er als «gut informierter, wissender Insider und neutraler, ausländischer Beobachter» über die Ereignisse in der DDR 1989/90.
So ist es im Klappentext der deutschen Ausgabe «Nachrichten aus einem Land, das niemals existierte – Tagebuch des letzten spanischen Botschafters in der DDR» von 1992 zu lesen. Im Folgenden ein Ausschnitt aus seiner «ungewöhnlichen Chronik», die laut des nicht mehr existierenden Verlages Volk & Welt ein «authentisches zeitgeschichtliches Dokument» ist. Sie wurde 2018 in Spanien wieder veröffentlicht.
9. November 1989
Heute durchlebe ich die ungewöhnlichsten Augenblicke meines gesamten Aufenthaltes in diesem Land. Durch ein unglaubliches Zusammentreffen von Umständen werde ich Zeuge der Maueröffnung, die heute abend um 21.12 Uhr Geschichte geworden ist.
Das Ereignis hätte nicht banaler sein können. Ohne Trara, ohne Ankündigungen oder öffentliche Bekanntmachungen hat ein unbekannter Grenzpolizist das Tor eines Gitterzaunes geöffnet und den Wartenden auf der anderen Seite gesagt, sie könnten passieren. Diese drei Worte „Sie können passieren“ haben darüber entschieden, dass die Berliner Mauer aufhörte, eine solche zu sein, und sich bereits in ein historisches Zeugnis verwandelt.
Das Team von «Informe semanal» [eine spanische TV-Sendung – Anm. d. Red.] war zum Abendessen zu uns nach Hause gekommen, um später Aufnahmen von einem Rockkonzert im Haus der Jungen Talente zu machen. Im Fernsehen hatten wir erlebt, wie Schabowski auf der allabendlichen Pressekonferenz zur Sitzung des Zentralkomitees verkündete, dass die Bürger der DDR berechtigt wären, in die Bundesrepublik und nach Westberlin zu reisen. Die Meldung machte uns sprachlos. Kerstin, die Dolmetscherin, war unwahrscheinlich beeindruckt. Erst dachte ich, die Genehmigung bezöge sich nur auf die Flüchtlinge, zumal ja Besuchsreisen Gegenstand einer späteren Regelung sein sollten. Wir ließen das Essen stehen und machten uns auf den Weg.
Weil mehr Neugierige als sonst unterwegs waren, fuhren wir im Schritttempo zur Bornholmer Brücke. Tatsächlich standen dort an die hundert Menschen auf dem linken Gehweg vor dem Metalltor, durch das Fußgänger in den Westen gelangen konnten. Die Menschen befragten die Polizisten über das Wann und Wie der neuen Regelung. Rosa María Artal interviewte einige von ihnen, die vom Licht der Handscheinwerfer geblendet waren. Dann verteilten zwei Polizisten von der anderen Seite des Gitters aus Handzettel mit den Zollvorschiften für DDR-Bürger, die ins Ausland reisen. Sie stammten vom November 1987.
Erregte Gespräche und ein paar hysterische Schreie. Die Leute lasen, ohne zu begreifen, versuchten indessen, sich noch mehr dieser Zettel zu verschaffen. In dem Augenblick öffnete der Polizist das Tor und bedeutete den Versammelten, die sich ungläubig weigerten, zu passieren.
«Welche Formalitäten sind denn erforderlich?»
«Keine.»
«Ich habe nur meinen Personalausweis bei mir …»
«Der genügt.»
«Und können wir auch wieder zurück?»
«Jederzeit.»
Einer sah den anderen an, und mit halb erschrockenen Lächeln gingen sie schnelle durch das Gittertor.
Die Mauer ist bereits Geschichte.
Ich spreche mit einem Polizisten, den ich schon seit Jahren kenne. Ich habe einige Mühe, bis ich die Genehmigung erhalte, mit dem Fernsehteam auf die westliche Seite der Brücke zu fahren. Kerstin, die Dolmetscherin, sträubt sich, in das Auto zu steigen. Sie hat Angst vor Repressalien oder einer Geldstrafe. Ich ermuntere sie, und wir zwängen uns zu fünft in das Auto. Wir fahren in den Westen, und hier fangen die Reporter mit ihren Kameras die überschäumenden Gemütsäußerungen derer auf, die zum ersten Mal die verbotene Linie überqueren durften.
Der Fall der Mauer übertrifft alles, was an diesem Tag noch geschehen ist: die für Montag erfolgte Einberufung der Volkskammer, die Sindermann ablösen und seinen Nachfolger wählen, die Situation im Lande erörtern sowie Hans Modrow als Regierungschef bestätigen soll …
Protestkundgebungen in mehreren Bezirken haben vier der neuen Mitglieder des Politbüros zum Rücktritt gezwungen. Die Krise in der Partei ist tief und gefährdet die Zukunft von Krenz.
10. November 1989
Die Nacht in Westberlin ist zum Fest geworden. Was eine belagerte Stadt gewesen war, wurde im Sturm genommen und von Hunderttausenden besetzt, die zum erstenmal die Luft der Freiheit schnupperten und mit Beifall, Blumen, Obst, mit Umarmungen und Tränen empfangen wurden.
Die Meldung, dass man ab acht Uhr eine Sondergenehmigung benötigen würde, hat dazu geführt, dass sich schon am frühen Morgen endlose Schlangen vor den Polizeiämtern bilden. Die Menge ist so riesig, dass sich die Regierung gezwungen sah, die Freiheit, nur mit einem Personalausweis über die Grenze zu gehen, bis Dienstag zu verlängern. Das Fest geht den ganzen Tag weiter. …
Am Nachmittag haben Arbeitertrupps damit begonnen, neue Übergänge an der Mauer zu öffnen. Abends laufe ich mit Teresa durch die Stadt. Auf der Bornholmer Brücke sehen wir uns von der Welle der kollektiven Freude weggetragen, die unter dem Lächeln der Polizisten über die Brücke brandet. Früher kontrollierten sie die Pässe; heute regeln sie den Verkehr. Die «Trabis» sind zwischen den Tausenden kaum zu sehen. Viele kommen so zurück, wie sie rübergegangen sind, andere schon beladen mit Tüten. Sie haben das „Begrüßungsgeld“, die hundert Mark pro Jahr, die jeder Ostdeutsche erhält, wenn er zum ersten Mal in die Bundesrepublik kommt, bereits ausgegeben. Die Banken machen Überstunden, um dem Ansturm Herr zu werden.
Immer wieder frage ich mich, warum das Politbüro diesen Schritt getan hat. Keiner konnte vermuten, dass sie die Lage für so hoffnungslos hielten. Wie es heißt, soll Gorbatschow Krenz geraten haben, sich möglichst viele der Forderungen des Volkes vom Halse zu schaffen, um sich auf die schwierigen Probleme konzentrieren zu können. …
Keine der vier Mächte hat irgendetwas unternommen, was an eine mögliche Initiative denken lassen könnte, das Viermächteabkommen von 1971 anzuwenden. Auf jeden Fall wird Bush über das alles mit Gorbatschow reden. Auf Malta, über Jalta. …
11. November 1989
Es ist Samstag. Halb Ostberlin überschwemmt den anderen Teil der Stadt. Vor den Banken endlose Schlangen. Die erstaunten Besucher schauen sich überall um, konzentrieren sich aber auf das bunte Angebot der Obstgeschäfte. Die Westberliner streicheln als Willkommensgruß die Pappkarosserien der „Trabis“. Es ist wie der Schlag auf die Schulter eines Freundes, der Kontakt mit dem Fetisch, der Glück bringen soll. Für Anfang Dezember ist ein Treffen zwischen Krenz und Kohl vorgesehen.
Von Magdeburg bis Helmstedt eine fünfzig Kilometer lange Warteschlange auf der Autobahn in Richtung BRD.
Ich bin überzeugt davon, dass das Zentralkomitee die Botschaft, die das Fernsehen Ost und West gleichermaßen an diesem Wochenende in der gesamten DDR verbreitet, nicht vorausgesehen hat. Die Ostdeutschen haben auf ihren Fernsehschirmen heute den ganzen Tag lang die bewegten Gesichter ihrer Landsleute im Westen gesehen. Unbeschreibliche Reaktionen von Menschen, die nicht auszudrücken vermochten, was sie empfunden und erlebt haben. „Das da drüben“, das heißt die Bundesrepublik, der Kapitalismus, der Revanchismus und die Ungerechtigkeit ist viel besser als das, was sich ein Bürger aus dem sozialistischen Paradies vorstellen kann. Die Wiedervereinigung ist um mehrere Jahre nähergerückt, und es wird sehr schwer sein, das Modell einer Gesellschaft gegenüber der anderen, in Westberlin, zu verteidigen, die imstande ist, auf einem Ladentisch nebeneinander Ananas und Bananen, Kiwis und Weintrauben, Apfelsinen und Granatäpfel anzubieten. …
Um fünf Uhr kommt Teresa aus Westberlin zurück und gibt mir ihre Eindrücke wieder: «Ein unwahrscheinlicher Trubel. Wir waren mehrmals am Brandenburger Tor. Die Menschen haben gesungen, geschrien, getanzt. Einfach irre. Dann haben wir im Kino ‹Batman› gesehen. Für die aus dem Osten kostete es nur die Hälfte. Der Kurfürstendamm hat sich in eine Fußgängerzone verwandelt und ist verstopft. Im Europa-Center schlafen nicht wenige auf dem Fußboden. Man muss Schlange stehen, um einen Kaffee zu bekommen und etwas zu essen. Die Straßen sind mit Abfällen übersät. …» …
12. November 1989
Berlin feiert weiter. Aus der ganzen DDR kommen die Menschen in Sonderzügen, per Auto, ja sogar auf Lastwagen. Einer hat vor unserem Haus geparkt. Ich fotografiere auf dem Potsdamer Platz, einem Niemandsland zwischen zwei Mauern, der einstmals das pulsierende Herz der Hauptstadt des Dritten Reiches gewesen war. Um acht Uhr früh begrüßen sich die Bürgermeister der beiden Teile Berlins an der Demarkationslinie und eröffnen einen neuen Übergang. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden sind mehrere eingeweiht worden.
Die Öffnung der Mauer ist eine militärische Operation gewesen, die sich mit derselben Wirksamkeit und Schnelligkeit vollzog wie damals im Jahr 1961, als sie gebaut wurde. …
Heute werden die Ostler mit Blumen, Kaugummi und Stadtplänen von Westberlin begrüßt, wenn sie hinüberkommen.
Nachmittags kehren sie zurück, beladen mit Tüten, den kurzlebigen Trophäen eines Jagdausflugs in die Überflussgehege der Konsumgesellschaft. Nicht die Politik, die Habgier wird die Wiedervereinigung herbeiführen, denn nach einem «Kudamm»-Bummel wird es das einzige Ziel dieser Menschen sein, ein Gesellschaftsmodell zu haben, welches dem, das in der belagerten Stadt floriert, möglichst nahekommt. …
13. November 1989
… In Berlin normalisiert sich die Lage, und weniger Leute siedeln in den Westen über. Acht neue Grenzübergänge sind eröffnet worden, zwei weitere für morgen angekündigt. An dem langen Wochenende sind zwei Millionen Menschen von Ost- nach Westberlin gegangen und haben dort fast tausend Tonnen Abfälle zurückgelassen. Millionen Menschen fuhren über die Grenze in die Bundesrepublik, wo ebenfalls neue Übergänge eingerichtet wurden. …
14. November 1989
… Ich werde immer mehr in dem Verdacht bestärkt, dass die Mauer durch ein Missverständnis geöffnet wurde. Die Ankündigung von Schabowski, die Menschenansammlung an einigen Übergängen und die Anweisung an die Polizei, Zusammenstöße oder Gewaltanwendung gegen die Bevölkerung zu vermeiden, bewirkten, dass irgendwann irgendjemand zu schnell den Befehl erteilte, die Leute durchzulassen.