Nicht der scheinbar ahnungslose Günter Schabowski ist verantwortlich dafür, dass am 9. November 1989 nach seinen Aussagen auf einer Pressekonferenz die Grenze der DDR zu West-Berlin und zur BRD ungeplant geöffnet wurde. «Der eigentliche Fehler war, dass der SED-Generalsekretär Egon Krenz nicht wie geplant mit der Bekanntgabe der Reiseverordnung bis zum nächsten Tag wartete», erklärte der Historiker Herrmann Wentker im Herbst 2019 in Berlin auf einer Veranstaltung zum Thema.
Er widersprach damit den gängigen Darstellungen von den Vorgängen, wie sie Krenz selbst mit befördert. Das unsicher wirkende Vorlesen der geplanten Reiseverordnung durch das SED-Politbüromitglied Schabowski sowie dessen Antwort auf Nachfragen, DDR- Bürger könnten «sofort» und «unverzüglich» über die Grenze gehen, gelten bis heute als Anstoß für den sogenannten Mauerfall.
Der Historiker Florian Huber behauptete 2009 mit einem Film und einem Buch, Schabowskis «Irrtum» habe für die Grenzöffnung gesorgt. Die Bundesregierung pflegt diese Legende und stellte 2019 in Berlin «Schabowskis Zettel» öffentlich aus, auf dem er sich angeblich den Ablauf der Pressekonferenz am 9. November 1989 notiert hatte.
Umfangreiche Erkenntnisse
Begründete Zweifel an dem Zettel des SED-Funktionärs und dessen vermeintlichem Irrtum als Anstoß zum «Mauerfall» hat der Historiker Hans-Herrmann Hertle zusammengetragen und bereits vor Jahren veröffentlicht. Die überarbeitete Ausgabe seiner «Chronik des Mauerfalls» erschien 2020 im Ch. Links Verlag unter dem Titel «Sofort, unverzüglich».
Darin hat der Historiker umfangreiche Erkenntnisse aus Gesprächen mit Beteiligten der verschiedenen Seiten, aus Dokumenten in den Archiven und aus der Literatur zum Thema zusammengetragen. Es handelt sich wohl um den umfassendsten Überblick über das damalige Geschehen.
Hertle zeichnet das Geschehen um den Entwurf einer Reiseverordnung für die DDR-Bürger Anfang November 1989 nach, bis zur berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989 und den bekannten Folgen. Die neue Führung von SED und DDR hoffte, nachdem sie den bisherigen Staats- und Parteichef Erich Honecker abgesetzt hatte, so die Lage im Land entspannen zu können. Die hatte sich durch den steigenden Druck im Inneren und die anhaltende Fluchtwelle weiter zugespitzt.
Die Chronik des Historikers macht die Rolle von Krenz in dem Geschehen deutlich und bestätigt die Aussage seines Fachkollegen Wentker. Das widerspricht dem, was der Honecker-Nachfolger unter anderem in seinem Buch «Wir und die Russen» im Kapitel «Wahrheiten und Legenden vom 9. November» dazu schreibt.
In seiner Antrittsrede am 18. Oktober 1989 hatte er noch unbestimmt ein neues Reisegesetz angekündigt. Anfang November 1989 habe er die Bundesregierung gebeten, die geplante Reisefreiheit der DDR-Bürger mitzufinanzieren, schreibt Krenz.
Fehlende Initiativen
Bonn habe das mit politischen Forderungen verbunden, was für ihn nicht in Frage gekommen sei. Deshalb habe er «eine sofortige Lösung für das Reisen» nicht mehr ausgeschlossen, «ohne jedoch einen Vorschlag für den Umtausch von Mark der DDR in Deutsche Mark anbieten zu können. So entstand die Idee, bis zur gesetzlichen Regelung eine ‹Sofortige Reiseverordnung› zu erlassen, die durch Beschluss der Regierung in Kraft gesetzt werden konnte.»
Ein Blick in die Erinnerungen des Honecker-Vertrauen und SED-Wirtschaftssekretärs Günter Mittag von 1991 zeigt: Das SED-Politbüro hatte 1989 bereits mehrere Monate zuvor darüber diskutiert, «jedem Bürger einen Reisepass zur Verfügung zu stellen«. Und: «Auch Krenz entwickelte zumindest damals keine Initiativen, um bei der Klärung dieses dringenden Problems voranzukommen.»
Die dann übereilte Reiseverordnung wurde insbesondere durch den Druck seitens der ČSSR-Führung notwendig. Das erwähnt der Honecker-Nachfolger nur in seinen Anmerkungen in seinem Buch.
Prag forderte von Ost-Berlin Anfang November ultimativ eine Regelung, damit DDR-Bürger nicht mehr über die tschechoslowakische Grenze zur Bundesrepublik ausreisen müssen. Diese wurde nach den massenhaften Besetzungen der BRD-Botschaft in Prag durch DDR-Bürger im Sommer und Herbst des Jahres bereits am 4. November 1989 mit SED-Zustimmung für die Botschaftsbesetzer geöffnet.
Nachholende Reaktionen
Der Historiker Walter Süß schrieb dazu in seinem Buch «Staatssicherheit am Ende» von 1999:
«Da in die Tschechoslowakei weiterhin jeder fahren konnte, war damit die Grenze für Ausreisewillige praktisch offen. Für diese Menschen … ist die Mauer nicht am 9., sondern bereits am 4. November durchlässig geworden. Innerhalb von drei Tagen, bis zum 6. November, nutzten mehr als 30.000 Menschen den Weg über die ČSSR nach Bayern.»
Zuvor hatte schon Ungarn am 11. September 1989 seine Grenze nach Österreich für DDR-Bürger geöffnet. In Hertles «Chronik des Mauerfalls» ist der weitere Gang der Dinge am 9. November 1989 nachzuvollziehen.
Dazu zählt, wie je zwei Mitarbeiter des DDR-Innenministeriums und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) versuchten, die gewünschte Reiseverordnung an die Realität anzupassen. Das war notwendig geworden, nachdem ein am 6. November veröffentlichter Entwurf für ein neues Reisegesetz auf heftige Kritik und Ablehnung gestoßen war.
Die Verordnung war eigentlich nur für das Problem der Ausreise vorgesehen gewesen. Krenz und Schabowski spielten dabei laut Hertle nicht die Rolle, die sie sich später zuschrieben und zuschreiben:
«Andere Absichten im Hinblick auf eine weitergehende Reiseregelung, die nicht nur die ständige Ausreise umfasste, wie sie Herger, Krenz und Schabowski im Nachhinein geltend machten, blieben den Beteiligten fremd.»
Eigenmächtige Korrekturen
Doch die vier Ministeriumsmitarbeiter hätten sich selbst dazu entschlossen, «‹Nägel mit Köpfen› … zu machen und beide Fragen – die der ständigen Ausreise und die der Privatreisen – in einem Wurf zu regeln». Besuchs- und touristische Reisen sollten aber nur mit Reisepass und Visum möglich sein.
«Einem sofortigen Aufbruch aller DDR-Bürger schien somit ein wirksamer Riegel vorgeschoben», so Hertle. Auch die später missachtete Sperrfrist für die mediale Bekanntgabe, 10. November, 4 Uhr früh, sollte dem dienen. Zudem sollte es sich um einen Beschluss des DDR-Ministerrates handeln, den dieser noch formal bestätigen musste.
Nach kleineren Korrekturen landete der Entwurf der zweiseitigen Verordnung demnach bei Krenz. Der las sie gegen Mittag des 9. November den anderen Mitgliedern des neugewählten SED-Politbüros vor. Das Gremium, eine Mischung aus langjährigen und neuen Mitgliedern wie Hans Modrow, hatte nichts einzuwenden.
Das geschah während der am 8. November begonnenen und bis zum 10. November 1989 dauernden Tagung des Zentralkomitees (ZK) der die DDR bestimmenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die beschäftigte sich hauptsächlich mit weitgehenden personellen und politischen Veränderungen und nur nebenbei mit dem Thema Reisefreiheit. Das wird heute beim Blick auf die Grenzöffnung weitgehend außer Acht gelassen.
Bevor Krenz die entworfene Reiseverordnung gegen 16 Uhr den anderen ZK-Mitgliedern vorlas, war sie in einigen Punkten noch einmal präzisiert worden. Sie war aber immer noch kein offizieller Regierungsbeschluss.
Bei Hertle ist auf Grundlage des Protokolls der Tagung nachzulesen, wie das vonstatten ging. In dem Entwurf stand unter anderem: «Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November zu veröffentlichen.« Krenz schlug demnach noch vor, «zeitweilig» zu streichen und dass der Regierungssprecher Wolfgang Meyer die Mitteilung «gleich» der Presse übergeben sollte.
Ahnungslose Genossen
Der Historiker schreibt, dass die ZK-Tagung danach weiter lief und niemand der Teilnehmenden noch einmal auf die Reiseregelung kam. Er zitiert den Krenz-Vertrauten Siegfried Lorenz, der damals neben dem letzten SED-Generalsekretär saß und bis heute oft begleitet:
«Das Plenum hatte die ganze Tragweite des Beschlusses nicht erkannt.»
Allerdings würden späteren Aussagen von anderen ZK-Mitgliedern vom Gegenteil zeugen. Schabowski war zwar ZK- und Politbüro-Mitglied, aber in der Zeit, als Krenz den Entwurf vorlas, nicht im Raum. Wo er sich in der Zeit aufhielt, ist bisher unbekannt.
Einer der es weiß, wollte es im Gespräch mit dem Autor nicht sagen, weil ihm sonst rechtliche Folgen drohen würden. Warum Krenz dem bis dahin Abwesenden, der sich kurz einfand, um dann zur Pressekonferenz zu fahren, den zweiseitigen Entwurf der Reiseverordnung gab, bleibt auch unklar. Krenz erklärt das nicht in seinen Büchern, wie er ebenfalls weglässt, dass Schabowski bei all den Vorgängen im Herbst 1989 seine «rechte Hand» war.
In seinem neuen Buch schrieb er:
«Gegen 17.15 Uhr kam Günter Schabowski zu mir und meldete sich für den Rest der Tagung ab. Er müsse zu einer internationalen Pressekonferenz, die um 18 Uhr beginne. Er wolle von mir nur wissen, ob ich noch Hinweise hätte.»
Er habe Schabowski den Entwurf gegeben und gesagt: «Du musst unbedingt über den Reisebeschluss informieren. Das ist die Weltnachricht!»
Verschiedene Erinnerungen
Schabowski beschrieb in dem 1990 erschienenen Interview-Buch «Das Politbüro» die Szene so:
«Als ich wieder in den Sitzungssaal kam, war es schon Zeit für die Pressekonferenz. Ich ging zu Krenz, um mich zu verabschieden. Er drückte mir das Regierungspapier über den Reisevorgriff in die Hand und meinte, das könnte ein Knüller sein.»
Auch in seinem Buch «Der Absturz» von 1991 schrieb er, dass Krenz ihm einen «Knüller» ankündigte und übergab. Und:
«Ich hatte also einen vom Kabinett noch nicht bestätigten Beschluss in der Hand und wusste es nicht.»
Zugleich behauptete Schabowski, er habe den Inhalt der Vorlage gekannt und absichtlich wie nebenbei verkündet. In zwei späteren Publikationen, dem Buch «Wir haben fast alles falsch gemacht» und der Broschüre «Der Zerfall einer Leihmacht» aus dem Jahr 2009, erklärte er, er sei gegen 17 Uhr in die ZK-Tagung zurückgekommen.
Er habe sich neben Krenz gesetzt und von diesem den Entwurf der Reiseverordnung bekommen. Beide hätten darüber gesprochen und sich geeinigt, dass Schabowski die Medien davon unterrichtet. Er habe aber nichts von der eigentlich vorgesehenen Sperrfrist gewusst, erklärte er in den Publikationen. Eine solche sei auch „absurd“ gewesen, befand er 20 Jahre nach dem Ereignis.
Krenz stellt das so dar, Schabowski habe auf der Pressekonferenz «durch seine Unkonzentriertheit Verwirrung» ausgelöst. Auf die Frage nach der Reisereglung habe er sich zwar an den Text der Verordnung und die Pressemitteilung gehalten. Dann habe er aber einen «Irrtum» begangen und nicht gesagt, dass die Grenzöffnung erst am Morgen des 10. November erfolgen sollte.
Dann hätten die Befehle für die Grenztruppen, das Ministerium für Staatssicherheit und die Volkspolizei vorgelegen, meint Krenz. Aus seiner Sicht antwortete Schabowski jedoch auf eine Nachfrage nach dem Zeitpunkt «sichtlich verwirrt: ‹Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich. ›»
Unrealistische Vorgaben
Dass alles wie geplant abgelaufen wäre, wenn die Reiseverordnung am 10. November 1989, 4 Uhr morgens, in Kraft getreten wäre, dürfte schon damals unrealistisch gewesen sein. Die DDR-Grenztruppen hätten das ebenso wie die Personenkontrolleinheiten (PKE) des MfS oder der DDR-Zoll nicht so schnell umsetzen können.
Zudem waren insbesondere die Grenztruppen nicht einbezogen und informiert worden, als die Reiseverordnung beraten wurde. Deshalb wurden sie selbst wie die PKE-Angehörigen von den Schabowski-Aussagen und den Folgen überrascht.
Krenz hätte seinem engen Vertrauten den Entwurf der Reiseverordnung nicht geben dürfen, damit er ihn verkündet. Das sollte nicht nur ursprünglich Regierungssprecher Meyer machen. Zudem war die Verordnung immer noch nicht formal vom DDR-Ministerrat beschlossen worden.
Darauf hatte in der Pressekonferenz noch DDR-Außenhandelsminister Gerhard Beil, neben Schabowski sitzend, hingewiesen. Doch das wurde anscheinend von allen im Saal überhört. Zu den Absurditäten des DDR-Systems gehörte, dass fast die Hälfte der DDR-Minister als ZK-Mitglieder in der Tagung saß, als Krenz den Entwurf vorlas.
Aber keiner von ihnen kam auf die Idee, mal auf den Umstand hinweisen. Das lag laut Hertle an dem «jahrzehntelang eingespielten Selbstverständnis, die Regierung als nachgeordnetes Durchführungsorgan der SED zu behandeln».
Unbeantwortete Fragen
Der Historiker stellt fest, dass Krenz bereits mit seinem Vorschlag, den Entwurf durch den Regierungssprecher «gleich» zu verkünden, die vorgesehene Sperrfrist ignorierte. Bis dahin sei es in der DDR üblich gewesen, dass Gesetze und Verordnungen mit ihrer Veröffentlichung in Kraft treten.
Selbst das hatte Krenz anscheinend aus welchem Grund auch immer ignoriert. Dem Protokoll zufolge sagte der SED-Generalsekretär gegenüber dem ZK noch: «Wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt.» Das bestätigte er selbst durch sein eigenes Handeln vor 30 Jahren.
Hertle meint in seinem Buch, dass das zumindest zu Schabowskis angeblichem Plan passt, die vorgesehene Reisefreiheit mit «einer beiläufigen Optik» zu verkünden. 1990 erklärte der SED-Funktionär:
«Ich habe diese Formulierung in schnellem Tempo vorgelesen, weil ich vor der Öffentlichkeit nicht auch noch betonen wollte, dass die DDR auf dem letzten Loch pfeift.»
Die beiden ehemaligen SED-Kader würden «im Nachhinein eine andere Version glauben machen» wollen, stellt der Historiker fest. Trotz aller Differenzen zu Krenz seien Schabowskis Aussagen «in dieser Hinsicht exakt auf die Erinnerungsarbeit des Generalsekretärs justiert». Der machte aber bereits 1998 in einem Gespräch mit Hertle seine einstige «rechte Hand» für den «kleinen Fehler mit großen Folgen» verantwortlich.
Schabowski selbst schrieb schon 1990:
«Allmählich habe ich die Rolle des Böslings angenommen. Ich hatte keine Manschetten mehr, Dinge auszusprechen, die notwendig waren.»
Hertle schreibt:
«Was Krenz dazu bewogen haben könnte, Schabowski einen ‹falschen Schritt› als Weltnachricht anzubieten, gab er bislang nicht preis.»
Buchtipp:
Hans-Hermann Hertle: „Sofort, unverzüglich – Die Chronik des Mauerfalls“
Ch. Links Verlag, 2019. 368 Seiten. ISBN: 978-3-96289-060-5. 20 Euro
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