Marketingtechniken und Psychologie sind eng miteinander verwoben, wenn es darum geht, beim Konsumenten bestimmte Bedürfnisse zu wecken. Diese Tricks macht sich auch die US-amerikanische Pharmaindustrie zunutze. Denn im Gegensatz zu nahezu allen Ländern der Welt ist Fernsehwerbung für verschreibungspflichtige Medikamente in den USA nicht illegal. Dort werden pro Stunde im Durchschnitt 80 solcher Medikamentenspots im Fernsehen ausgestrahlt. Darauf hat jüngst das Medienportal The Defender hingewiesen.
«Fragen Sie Ihren Arzt», sagen die Sprecher den Zuschauern und fordern sie auf, sich bei ihrem nächsten Arztbesuch die neuesten Markenmedikamente zu besorgen. Nach Angaben von The Defender war diese Art des Direktmarketings vor den 1980er Jahren selbst in den USA noch unbekannt. Inzwischen seien diese Werbespots jedoch sehr beliebt bei den Amerikanern.
Diese Marketingmassnahme habe sich für Big Pharma zwar als unglaublich lukrativ erwiesen, so The Defender, doch seien die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen höchst fragwürdig. Die Werbebotschaften verführten den Verbraucher dazu, von ihrem Hausarzt Medikamente zu verlangen, unabhängig davon, ob sie diese brauchen oder nicht.
Das Medienportal erläutert, dass sich die Pharmaunternehmen vor den 1980er Jahren direkt an die Ärzte und nicht an den Patienten gewandt hätten. Damals hätten Führungskräfte der Pharmaindustrie den Kongressmitgliedern deutlich erklärt, dass sie der Meinung seien, dass die direkte Werbung für Arzneimittel bei den Verbrauchern nicht im Interesse der öffentlichen Gesundheit liege und eine gewisse Gefahr in sich berge.
Quelle: YouTube, Vox
Big Pharma unterwandert Schutz der Öffentlichkeit
Doch allmählich habe sich ein kultureller Wandel vollzogen, der die Patienten dazu ermutigt habe, sich intensiver mit ihrer persönlichen Gesundheitsversorgung auseinanderzusetzen, anstatt nur auf die Ärzte zu hören. Werbetreibende seien auf diesen Zug aufgesprungen. Vorerst sei die Arzneimittelwerbung für Verbraucher nur in Printanzeigen und Zeitschriften erschienen; Fernsehwerbespots seien erst später gefolgt.
Als Grund dafür nennt das Portal die Auflagen der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA. Diese verlangte, dass in den Anzeigen alle Risiken und Nebenwirkungen des Medikaments angegeben werden mussten. Auf gedruckten Seiten war das einfach, bei Fernseh- oder Radiowerbung gestaltete sich das schon schwieriger.
Es gab jedoch ein seltsames Schlupfloch, das es erlaubte, Arzneimittelwerbung ohne Angabe der Risiken und Nebenwirkungen zu schalten: Man verschwieg schlichtweg die Krankheit, die mit dem Medikament behandelt werden sollte. Laut The Defender war dieser Schachzug nur möglich, weil die Industrie endlich die für den Schutz der Öffentlichkeit zuständigen Bundesaufsichtsbehörden in ihre Gewalt gebracht hatte.
«Es überrascht nicht, dass dies zu Verwirrung führte, sodass die FDA 1997 die Anforderungen lockerte und festlegte, dass die Anzeigen nur die ‹wichtigsten› Nebenwirkungen des Medikaments erwähnen sollen. Ausserdem sollten sie angeben, wo der Betrachter die restlichen Informationen finden kann.»
Selbst wenn die Zuschauer die vollständige Liste der Nebenwirkungen nachschlügen, schreckten die Informationen die Patienten nur selten ab. Alles sei darauf ausgerichtet, die Risiken auszublenden und das Medikament in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Nicht von ungefähr verwendeten die Marketingexperten ansprechende Bilder und eine passende Musik. Ausserdem engagierten sie Schauspieler, die den Fernsehzuschauer mit ihrer Stimme einlullen sollen.
Es war nun also kein Muss mehr, alle Nebenwirkungen von Arzneimitteln in der Werbung aufzuführen. Somit war der Weg für Arzneimittelwerbung im Fernsehen geebnet. Bis 2004 hätten sich die jährlichen Ausgaben für Arzneimittelwerbung vervierfacht, und Markenmedikamente wie Lipitor, Lunesta, Xanax und Ambien seien immer bekannter geworden.
«Bis 2003 hatte das Direktmarketing für verschreibungspflichtige Medikamente in den USA ein Volumen von 3,2 Milliarden Dollar erreicht. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 werden es 6,58 Milliarden Dollar sein, wobei die sozialen Medien nicht mitgerechnet sind.»
Kritiker warnten früh
Von Anfang an hätten Kritiker davor gewarnt, dass die Werbung zu einer übermässigen Verschreibung «unnötiger, teurer und potenziell schädlicher Medikamente» führen würde. The Defender verweist auf eine Studie, die 2005 im Journal of American Medical Association (JAMA) erschienen ist. Diese habe ermittelt, ob Fernsehwerbung die Nachfrage nach dem Antidepressivum Paxil erhöht hat.
Aus der Studie geht hervor, dass die Hälfte der Patienten Symptome einer Depression beschrieben hätten, die andere habe angegeben, dass sie sich «niedergeschlagen fühlte». Hier handle es sich um eine Anpassungsstörung, die normalerweise keine sofortige medikamentöse Behandlung erfordere, schreibt The Defender.
Das Medienportal schildert, dass ein Teil der besagten Patienten erwähnt habe, dass sie einen Werbespot für das Antidepressivum Paxil gesehen habe. Die andere Patientengruppe habe keine Medikamente erwähnt. Bei Patienten, die Paxil erwähnten, sei die Wahrscheinlichkeit grösser gewesen, dass sie zu einer psychiatrischen Beratung überwiesen wurden und ein Rezept für ein Antidepressivum erhielten. Dabei habe es keine Rolle gespielt, ob sie Symptome einer Depression beschrieben oder sich einfach nur «niedergeschlagen» fühlten. Der Hauptautor der Studie, Dr. Richard Kravitz, erklärte: «Für uns war dies ein typisches Beispiel für das zweischneidige Schwert, das die Direktwerbung für Verbraucher darstellt.»