Die Künstliche Intelligenz (KI) bestimmt derzeit die Schlagzeilen – und nicht nur die: Im Prinzip breitet sie sich in allen sozialen Bereichen aus, stellt alles auf den Kopf und übernimmt die Herrschaft. Viele Entscheidungen, ob in Politik, Wirtschaft oder Kultur, basieren heute auf Künstlicher Intelligenz. Welche Folgen das haben kann, spielt der Publizist und Autor Raymond Unger in seinem neuen Roman durch.
Die Hauptfigur im Hintergrund hat zwar kein Gesicht, aber einen Namen: «KAI». Dieser weckt Assoziationen und wirkt doppeldeutig. Im Laufe der Lektüre erweist sich jedoch sehr schnell, dass es sich um ein Akronym handelt: Kybernetische Artifizielle Intelligenz. Und die kann jede Menge Schaden anrichten. In Ungers Roman tut sie das mit teuflischer List. Die KI befeuert die Klimahysterie genauso wie Kriege, sie kreiert gefährliche Viren und haucht auch Impfstoffen ihren Geist ein.
Unger verarbeitet die brisanten Themen der letzten Jahre und macht daraus einen dystopischen Thriller, der das Fürchten lehrt. Die KI hat überall ihre Finger im Spiel. Das bekommt bald auch das Figurenpersonal zu spüren. Zu der illustren Runde gehören unter anderem zwei Psychoanalytiker, ein Gelehrter, ein bildender Künstler, eine Schriftstellerin, ein Arzt und Epidemiologe, eine grüne Journalistin, ein Pharmaunternehmensleiter und ein Priester mit Hang zum Exorzismus. Einige der Figuren sind realen Persönlichkeiten nachgebildet, wobei es den Lesern nicht schwerfallen dürfte, sie zu erkennen.
Kuriose Synchronizität
Die Handlung spielt an verschiedenen Orten, überwiegend in Deutschland, Schweden und den USA. In Gang gesetzt wird sie, als der bildende Künstler mit Künstlicher Intelligenz eine virtuelle Fotografie erstellt, auf der eine Frau abgebildet ist. Als er sie später zufällig kennenlernt, stellt sich heraus, dass sie mit der Technik ebenfalls experimentiert hat und denselben Namen trägt wie die virtuelle Schöpfung des Künstlers.
Um diese kuriose Synchronizität aufzuklären, begeben sie sich zusammen mit einem Psychoanalytiker nach Schweden zu einem Universalgenie mit Schwerpunkt auf paranormalen Phänomenen. Dort trifft nach und nach weiteres Personal ein, Figuren, die jeweils in unterschiedlichen Disziplinen und Feldern aktiv sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie bislang blind auf die KI-Nutzung vertraut haben. Schon bald aber werden ihnen die Schattenseiten bewusst. Die titelgebende Technologie scheint so weit entwickelt zu sein, dass sie sich im Geist ihrer Opfer festsetzen kann.
Während der Lektüre stellt sich der Effekt ein, dass man nicht mehr recht weiß, ob die beschriebenen Ereignisse noch reine Science-Fiction sind oder bereits Realität. Die im Stil der Romantik erbrachte Gratwanderung sensibilisiert für die Gefahren der Technik, für den Verlust der Freiheit und möglicherweise der menschlichen Spezies.
Ein Diskurs-Cocktail
Unger verarbeitet auf der Folie der Künstlichen Intelligenz und ihrer Möglichkeiten Themen, die schon Gegenstand seiner Sachbücher waren. Die darin formulierten Aussagen fließen in den Roman ein, werden jedoch übersetzt in Handlung und Dialoge, in Motive und Charakterzüge. Der kritische Unterton ist nicht zu überhören, selbst wenn die Erzählinstanz gelegentlich die Gegenposition einnimmt. Behandelt werden zahlreiche gesellschaftspolitische Entwicklungen und Phänomene, von der Bargeldabschaffung über die Einführung der Medienaufsicht bis hin zum Verbot jeglicher Nutztierhaltung.
Der Roman mutet an wie ein Cocktail. Es ist ein bisschen Corona-Politik drin, ein wenig Klimahysterie, eine Prise Migrationskrise, ein Löffel Ukraine-Krieg. Angereichert wird das Ganze mit Psychoanalyse, Transhumanismus sowie Okkultismus und garniert mit Hypothesen, die im Mainstream unter dem Rubrum «Verschwörungstheorie» laufen. Im Prinzip ist alles drin, was der gesellschaftliche Diskurs hergibt. Unger greift sämtliche Stichworte auf: ID2020, Digital Service Act, Smart Cities.
Das ist ambitioniert und lobenswert, wirkt aber ein wenig überladen, bisweilen sogar erdrückend und manchmal überwältigend, nicht zuletzt wegen der Faktenfülle. Recht häufig gibt es Stellen, an denen nicht nur einige Figuren referieren, sondern auch die Erzählinstanz. Das macht den Roman teilweise zu dem, was Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki früher als «Mitteilungsprosa» bezeichnete.
Spannung und Nervenkitzel
Weltliteratur ist «KAI» in der Tat nicht, dafür ein handwerklich solider Thriller. Wer solche Bücher gerne liest, kommt auf seine Kosten. Alle genrespezifischen Elemente sind vorhanden: spannungsreiche Verwicklungen, überraschende Wendungen, viel Action und vor allem Nervenkitzel, bisweilen sogar Horror.
Zugleich regt der Roman zum Nachdenken an, indem er philosophische Fragen aufwirft. Hat der Mensch mit der Entwicklung der KI eine neue Evolutionsstufe erreicht? Hat er die Büchse der Pandora geöffnet? Wie lässt es sich mit der KI trotz vieler Gefahren weiterleben? Die beschriebenen Probleme wecken den Wunsch, sich mit der omnipräsenten Technologie ausgiebiger zu beschäftigen, wobei sich bereits während der Lektüre viel lernen lässt.
So manche Details dürften den meisten noch unbekannt sein, zum Beispiel die Felder, in denen die KI bereits zum Einsatz kommt. Verwendet wird sie nicht nur in der Impfstoffherstellung, sondern beispielsweise auch in der Sprach- und geostrategischen Analyse, mit deren Hilfe Denkfabriken versuchen, aktuelle Bedrohungslagen einzuschätzen.
Was aber, wenn man einen Geist gerufen hat, der sich nicht mehr loswerden lässt. An einer Stelle liefert Ungers Roman eine interessante Antwort darauf: Die Gefahr, die von einer künstlichen Intelligenz ausgehe, schreibt er, bestehe allenfalls in deren Missbrauch durch politische Akteure: Das größte Risiko ist und bleibt der Mensch, nicht die KI. Das ist so wahr wie erschreckend. In diesem Sinne zeitigt «KAI» auch einen kathartischen Effekt.