Bereits seit 2016 setzt Schweden nicht mehr auf Asyl-, sondern auf Arbeitsmigration. In grossen Unternehmen ist ganz selbstverständlich Englisch die Geschäftssprache. Und trotz des jüngsten «Strafpopulismus» scheinen viele Schweden grossen Wert auf Besonnenheit und Konsens zu legen.
Sophie kommt ursprünglich aus Dänemark und wohnt in Schweden. Die Lehrerin ist vor gut einem Jahr mit ihrem Mann, der aus Indien stammt, in die Einwandererstadt Malmö gezogen. Um zu ihrer Arbeitsstelle in Kopenhagen zu gelangen, nimmt die 30-Jährige den Zug über die Öresundbrücke, die die dänische Hauptstadt mit Malmö verbindet.
«Hier ist alles entspannter. Die Menschen sind viel freundlicher und auf einen harmonischen Umgang miteinander bedacht», gibt sie als Hauptgrund dafür an, warum sie und ihr Mann jetzt auf der schwedischen Seite des Öresunds leben. Allerdings macht sie sich Sorgen, dass die Gesellschaft in Schweden ähnlich gespalten werden könnte, wie sie das in Dänemark erlebt hat.
Seit 1. August gibt es für die schwedische Polizei Sonderbestimmungen in Grenzgebieten. Die Polizei darf Personenkontrollen bei Ausländern durchführen, um festzustellen, ob diese zum Aufenthalt im Land berechtigt sind, die sogenannte «interne Ausländerkontrolle». Auf ihrem täglichen Weg von und zu ihrem Arbeitsort kann die Lehrerin beobachten, wie vermehrt Dokumente kontrolliert werden.
«Aber meinen Ausweis wollen die Beamten nie sehen. Die gehen natürlich nach Äusserlichkeiten und kontrollieren Menschen, die weniger schwedisch aussehen», kritisiert sie.
Durch das neue Gesetz erhält die Polizei erweiterte Befugnisse, Kontrollen durchzuführen, unter anderem an bestimmten Flughäfen, Häfen und Bahnhöfen, an Brücken ins oder aus dem Ausland sowie an Grenzübergangsstellen. Damit sollen Verbrechen verhindert werden. Auch die Kameraüberwachung in grenznahen Gebieten soll ausgeweitet werden.
Ein höherer Polizeibeamter erzählt unter vier Augen:
«Wir wissen schon jetzt, dass die Waffen, die in die Ukraine geliefert werden, irgendwann bei uns in Schweden landen. Nach dem Krieg in Jugoslawien war es genauso.»
So viele Schiffe und LKW könne die schwedische Polizei gar nicht kontrollieren, um das zu verhindern. Angesprochen auf die Bandenkriminalität erklärt er, dass die angedachten höheren Strafen und zusätzlichen Gefängnisse keine abschreckende Wirkung hätten. Seiner Meinung nach müssten die Kinder früher aus der Umgebung, den engen Wohnungen mit zu vielen Geschwistern und überforderten Eltern raus.
Margareta arbeitet in der Justizvollzugsanstalt in Malmö. Auf die Frage, ob die Bandenkriminalität durch die Migration befördert werde, wie manche Politiker behaupten, meint sie:
«Das gibt es doch alles schon sehr lange. Früher waren es die drei grossen Banden, wie die Hells Angels, die den Verkauf von Drogen kontrollierten. Jetzt sind eben viele kleinere Player hinzugekommen. Die sind oft in Schweden geboren, haben die schwedische Staatsbürgerschaft»
Civil Rights Defenders: «Strafpopulismus»
Die aktuelle schwedische Regierung ist seit rund einem Jahr im Amt. Am 17. Oktober 2022 wurde Ulf Kristersson Ministerpräsident, obwohl seine Partei, die konservativen Moderaten, bei den Wahlen mit 19,1 Prozent der Stimmen nur den dritten Platz erzielt hatte.
Erst nach dem «Tidö-Abkommen» stimmten die weiter rechts stehenden Schwedendemokraten (20,5 Prozent) als zweitstärkste Partei zu, eine Dreiparteienregierung aus Moderaten, Christdemokraten (5,3 Prozent) und Liberalen (4,6 Prozent) zu unterstützen. Der Pakt ist nach dem Schloss «Tidö» benannt, wo die Einzelheiten ausgehandelt wurden.
«Kriminalpolitisches Handeln folgt einem Trend, den wir in ganz Europa beobachten und der oft als Strafpopulismus bezeichnet wird», schrieb die schwedische Menschenrechtsorganisation Civil Rights Defenders (CRD) schon 2022 kurz nach der Bekanntgabe der Tidö-Vereinbarung.
Mit «Strafpopulismus» meinen die Menschenrechtler, dass politische Entscheidungsträger sich auf strafrechtliche Sanktionen konzentrieren, «weil diese bei den Wählern beliebt sind, und nicht wegen der Wirksamkeit bei der Kriminalitätsprävention». Untersuchungen und Erfahrungen aus anderen Ländern könnten nicht belegen, dass härtere Strafen die Kriminalität reduzierten.
So befürchtete CRD sehr früh, dass die neue Regierung Menschen mit Migrationserfahrung als die Ursache für die Probleme in Schweden darstellen würde:
«Wir sehen auch eine deutliche Verwechslung zwischen Migration und Kriminalität.»
Das übergeordnete Ziel sei demnach, die Migration zu reduzieren «unabhängig von den Folgen, die das für die Menschenrechte oder die Würde des Einzelnen haben könnte».
Zahlen und Fakten
Aber wie sieht die Migration nach Schweden eigentlich aus? Wer wandert ein?
Asylanträge in Schweden seit 1984. Für das Jahr 2022 in Dunkelgrün Antragssteller aus der Ukraine. Quelle: Ekonomifakta
Aufgrund des Ukrainekriegs ist die Zahl der Asylantragsteller im Jahr 2022 stark gestiegen. Dem EU-Beschluss folgend erhalten Menschen aus der Ukraine (Massenflüchtlinge) in Schweden eine zeitlich begrenzte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Und die schwedische Migrationsbehörde meldet Asylanträge im Rahmen der EU-Massenmigrationsrichtlinie separat.
Davon abgesehen erreichte die Zahl der Asylbewerber im Jahr 2015 rund 163’000 und war damit fast doppelt so hoch wie 1992 (Jugoslawienkrieg). Das war vor allem auf den Krieg in Syrien zurückzuführen, aber auch andere Konflikte wie in Somalia und im Irak haben dazu beigetragen.
Der Druck auf das Aufnahmesystem wurde schliesslich so gross, dass Schweden 2016 seine Flüchtlingspolitik änderte. Integration wurde zum viel diskutierten Thema. Denn Menschen, die ausserhalb Europas geboren sind und ein niedrigeres Bildungsniveau aufweisen, haben oft Schwierigkeiten, in Schweden Arbeit zu finden. Das mag einerseits an der wirtschaftlichen Entwicklung liegen. Andererseits ist Schweden innerhalb der EU das Land mit den wenigsten einfachen Jobs (vier Prozent).
Zum Vergleich: In Spanien sind es 12 Prozent, in Italien 10,8 Prozent und in Deutschland 7,6 Prozent. Da die Einstiegsgehälter in Schweden wegen der Kollektivvertragsregelung sehr hoch sind, haben Unternehmen Arbeitsplätze mit geringer Produktivität aus wirtschaftlichen Gründen reduziert.
Einfache Jobs in Prozent in den EU-Ländern plus Norwegen. Quelle: Ekonomifakta
Von der Asyl- zur Arbeitsmigration
Schon seit 2016 geht also die Einwanderung nach Schweden stark zurück – sieht man von den Menschen aus der Ukraine ab. Seit der Verschärfung der Regeln erhalten Flüchtlinge nur mehr eine befristete Aufenthaltserlaubnis von drei Jahren oder kürzer.
Währenddessen erhalten Asylsuchende, die nicht als Flüchtlinge gelten, denen aber bei einer Rückkehr in ihre Heimat Gefahr droht, eine Aufenthaltserlaubnis von 13 Monaten. Vor der Änderung bekamen Asylbewerber eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Laut Eurostat wurden 2022 in Schweden rund 2400 Asylanträge bewilligt, in Deutschland waren es 128’500.
Derzeit ist ein Fünftel der 10,5 Millionen Einwohner ausserhalb von Schweden geboren. Den jüngsten Zahlen der Statistik Schweden zufolge stammten im Jahr 2022 die meisten der rund 100’000 Einwanderer aus Indien (8009), gefolgt von Polen (4677), Deutschland (4533) und Syrien (3900). Die Zuwanderung von in Deutschland geborenen Menschen hatte bereits im Jahr 2021 (3500) stark zugenommen und betrug um 46 Prozent mehr als im Jahr davor.
Am 1. November soll eine weitere Verschärfung in Kraft treten: Um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten beziehungsweise zu verlängern, muss das Monatsgehalt mindestens 27’360 Kronen pro Monat oder 80 Prozent des Durchschnittslohns in Schweden betragen, das sind umgerechnet rund 2360 Euro. Bisher mussten monatlich 13’000 Kronen (1120 Euro) als Einkommen nachgewiesen werden.
«Die Migrationsbehörde schätzt, dass zehn bis zwanzig Prozent der Menschen, die letztes Jahr in Schweden eine Arbeitserlaubnis erhalten haben, nicht genug verdienen, um sich für die neue Gehaltsgrenze zu qualifizieren», meldet der öffentlich-rechtliche Sender Sverige Radio.
Das Miteinander verschiedenster Kulturen in Malmö mag vielleicht überraschen, folgt man den Berichten so mancher deutschsprachiger Medien. In persönlichen Gesprächen ist zu erfahren, dass auch Schweden Bedenken haben, allerdings vertreten sie dabei ganz andere Sichtweisen.
Sie machen sich vor allem Sorgen, dass dieses soziale Gefüge zerbrechen könnte, wenn Menschen durch Politiker oder andere Interessenvertreter gegeneinander aufgehetzt werden. Viele meinen, dass Gelder besser in Bildung und soziale Massnahmen investiert werden sollten, um gemeinsam an langfristigen Lösungen zu arbeiten.
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