Es gab gestern in Bern zwei, oder besser gesagt, drei Termine für die Fotografen. Einerseits der offizielle Fototermin bei der Pressekonferenz von Bundespräsidentin Viola Amherd (Wallis, Mittepartei) mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen, andererseits die kurzen Protestkundgebungen der Organisation «Mass-voll» auf dem Flughafen Bern-Belp, auf dem Bundesplatz und in dessen Nähe. Der der umtriebige «Mass-voll»-Chef Nicolas Rimoldi trat einer Hellebarde auf, die ihm die Polizei schon am Flughafen wegnahm. Die Hellebarde ist eine traditionelle Schweizer Hieb- und Stichwaffe.
Was gibt es zu feiern respektive zu protestieren? Ich habe hier in einem Newsletter die Entwicklung der wechselvollen Beziehung der Schweiz zur Europäischen Union (EU) nachgezeichnet. Nun sind die Verhandlungen abgeschlossen.
Die Beziehungen der EU zum Nichtmitglied Schweiz sind in etwa 120 Abkommen geregelt. Am wichtigsten sind das Freihandelsabkommen von 1972 und die sektoriellen Marktzugangsabkommen, die sukzessive nach dem Schweizer Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgeschlossen wurden.
Nach intensiven Verhandlungen hat nun der Bundesrat, die Schweizer Landesregierung, ein umfassendes Abkommen mit der Europäischen Union (EU) abgeschlossen, das diesen bilateralen Weg stabilisiert und zukunftssicher macht. In einer gemeinsamen Medienkonferenz bezeichneten Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Einigung als «historisch» und als bedeutenden Schritt für die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel.
Die Eckpfeiler des Abkommens
Das Abkommen umfasst sowohl die Weiterentwicklung von fünf bisherigen Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, Landwirtschaft und Anerkennung von Konformitätsbewertungen) bestehender bilateraler Verträge als auch den Abschluss neuer Vereinbarungen. Zu den zentralen Elementen gehören:
1. Erweiterung der bilateralen Abkommen: Zusätzlich zu den bisherigen Marktzugangsabkommen wurden drei neue Verträge abgeschlossen. Diese sollen dem Parlament und in der Volksabstimmung getrennt vorgelegt werden. Es kann also sein, dass zum Beispiel die institutionellen Regelungen angenommen werden, die neuen Abkommen aber keine Gnade finden. Vieles ist dabei noch unklar:
- Stromabkommen zur Förderung der Versorgungssicherheit und Netzstabilität. Hier ist nicht klar, ob dieses das Ziel erreicht. Die Schweiz hat vor zwei Jahren eine Wasserkraftwerksreserve eingeführt mit dem Zweck, das Netz zu stabilisieren. Ohne das Anzapfen dieser Reserve wäre die Stromversorgung in Deutschland mehrmals zusammengebrochen. Letztmals hat die Schweiz dem nördlichen Nachbarn am 12. Dezember 2024 massiv, in der Größenordnung der Kapazität von mehreren Kernkraftwerken ausgeholfen. Es blieb gestern unklar, ob das neue Abkommen eine solche Reserve erlaubt.
- Gesundheitsabkommen für bessere Kooperation in Gesundheitskrisen. Hier wäre zu prüfen, ob dies dazu führen könnten, dass bei einer zukünftigen «Pandemie» grundrechtseinschränkende Maßnahmen der EU obligatorisch übernommen werden müssen.
- Lebensmittelsicherheitsabkommen zur Harmonisierung von Standards. Hier muss geprüft werden, ob durch dieses Abkommen Ungeziefer und Genfood auf den Tisch von Herrn und Frau Schweizer kommen kann oder ob die Schweiz in diesem Bereich weiterhin autonom ist.
2. Finanzielle Beiträge: Die Schweiz zahlt ab 2030 jährlich 350 Millionen Franken als Kohäsionsbeitrag. Für die Übergangsphase von 2025 bis 2029 sind 130 Millionen Franken jährlich vorgesehen. Diese Zahlungen sollen die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der EU verringern.
3. Schutzmechanismen: Eine neu gestaltete Schutzklausel ermöglicht es der Schweiz, bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen eigenständig Maßnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung zu ergreifen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird in dieser Sache nicht involviert.
4. Erneuter Zugang zu Forschungsprogrammen: Schweizer Forschende können ab Januar 2025 wieder vollumfänglich an EU-Programmen wie Horizon Europe teilnehmen.
Institutionelle Fragen und Streitbeilegung
EU-Recht, das diese Abkommen betrifft, muss die Schweiz grundsätzlich übernehmen. Wenn sie das ablehnt – was sie darf –, riskiert sie Ausgleichsmaßnahmen der EU. Diese müssen verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit prüft ein unabhängiges Schiedsgericht, bevor die Maßnahmen greifen können.
Ein Hauptstreitpunkt der Verhandlungen war die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Streiten sich die Schweiz und die EU über ein Abkommen, sprechen sie weiterhin zuerst im Gemischten Ausschuss des betroffenen Abkommens darüber. Wird man sich dort nicht einig, wird die Frage einem paritätisch zusammengesetzten Schiedsgericht vorgelegt. Geht es um die Auslegung von EU-Recht, muss das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof (EuGH) beiziehen.
Wichtige Regelungen im Detail
- Personenfreizügigkeit: Das Abkommen ergänzt die Personenfreizügigkeit mit Elementen der Unionsbürgerrichtlinie, jedoch mit klar definierten Ausnahmen, etwa beim Daueraufenthaltsrecht für Nicht-Erwerbstätige.
- Das Daueraufenthaltsrecht nach fünf Jahren steht nur Erwerbstätigen offen. Wer während der fünf Jahre länger als sechs Monate von Sozialhilfe abhängig war, erhält das Aufenthaltsrecht nicht. Wer arbeitslos ist und sich nicht um eine Stelle bemüht, kann es verlieren. Außerdem sind weiterhin Ausschaffungen von kriminellen EU-Bürgern gemäß der Ausschaffungsinitiative möglich.
- Lohnschutz: Der Schweizer Lohnschutz bleibt unverändert. Entsendeunternehmen müssen weiterhin Schweizer Löhne zahlen, und die Kontrollmechanismen bleiben bestehen. Allerdings gelten bei Spesen die Regeln des jeweiligen Herkunftslandes.
- Schienenverkehr: Ausländische Bahnunternehmen können eigenständig grenzüberschreitende Verbindungen anbieten, müssen sich aber an das Schweizer Tarifsystem halten und die entsprechenden Billette und Abonnemente anerkennen. Bei der Trassenzuteilung erhält der Inlandsverkehr Vorrang.
Stimmen zur Einigung
Bundespräsidentin Viola Amherd sprach von einem «guten Tag für die Schweiz». Der bilaterale Weg sei eine bewährte Grundlage für die Beziehung zur EU, und das neue Abkommen stärke diese Partnerschaft. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich zufrieden: «Dieses Abkommen ist Ausdruck unserer tiefen Verbundenheit und ein Kraftpaket für unsere gemeinsamen Ziele.»
Simon Michel, Präsident der Organisation progresuisse, lobte das Abkommen als zukunftsweisend: «In einer globalisierten Welt sind stabile Beziehungen zu unseren wichtigsten Handelspartnern unverzichtbar. Dieses Abkommen sichert unseren Wohlstand und unsere Werte.»
Während Wirtschaft und Wissenschaft das Abkommen begrüßen, äußern die Gewerkschaften Bedenken. Pointiert ablehnend geäußert hat sich auch die Schweizerische Volkspartei (SVP), die größte Partei der Schweiz. In einer eindrucksvollen Mahnwache stellten sich Parlamentarier und andere Politiker dieser Partei mit Kerzen und einer Hellebarde auf den Berner Bundesplatz. Parteipräsident Marcel Dettling:
«Wir kämpfen für die Selbstbestimmung der Schweizerinnen und Schweizer! Bei uns hat das Schweizer Volk das Sagen. Und nicht irgendwelche EU-Bürokraten und EU-Richter. Darum müssen wir das Lügenpaket zurück an den Absender schicken: die Krisen-EU.»
Nächste Schritte
Die Abkommen werden nun juristisch bereinigt und im Frühjahr 2025 paraphiert. Anschließend beginnt der politische Prozess in der Schweiz. Der Bundesrat plant, die Vernehmlassung vor der Sommerpause 2025 zu eröffnen und das Paket Anfang 2026 dem Parlament vorzulegen. Eine Volksabstimmung könnte frühestens 2028 stattfinden.
Aus Schweizer Sicht muss das Verhandlungspaket danach beurteilt werden, ob es die Position der Schweiz stärkt und nicht, ob einem der Verhandlungspartner, die EU, sympathisch ist oder nicht. Um eine differenzierte Beurteilung vorzunehmen, bedarf es einer genaueren Analyse. Dabei müssen nebst den Vorteilen auch die Nachteile des Status Quo gewichtet werden.
Stefanie Walter, Professorin für internationale Beziehungen an der Universität Zürich, zeigte sich gegenüber Tamedia überrascht, wie viel die Schweiz herausgeholt hat. Sie glaubt, dass Bern gut verhandelt hat.
Walter sagt aber auch, dass die Befürworter sichtbarer werden müssen, wenn das neue Abkommen eine Chance vor dem Volk haben soll. Denn mächtige Gegner stehen in Form der SVP und der Kompassinitiative bereit.
Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Gewerkschaften ins Boot zu holen. Diese werden sich ihre Zustimmung zum Abkommen teuer bezahlen lassen. Die entsprechenden Verhandlungen muss im Jahr 2025 der Wirtschaftsminister und Waadtländer Weinbauer, SVP-Bundesrat Guy Parmelin, führen. Er und Gewerkschaftschef Pierre-Yves Maillard, ebenfalls Waadtländer, kennen sich seit Jahrzehnten. Ob das ein Vorteil oder ein Nachteil ist, wird sich weisen.
Die Geschichte um das Verhältnis Schweiz-EU ist seit dem 20. Dezember um ein Kapitel reicher. Es wird nicht das letzte sein.
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