Das ist unsere letzte Chance, den bilateralen Weg fortzusetzen
Tiana Angelina Moser, Schweizer Ständerätin, Grünliberale
Die Farce mit der EU geht weiter
Carl Baudenbacher, ehemaliger Präsident des EFTA-Gerichtshofes
Liebe Leserinnen und Leser
Ende letzter Woche hat die Schweizer Landesregierung, der Bundesrat, mit der EU-Kommission die Verhandlungen über ein neues Paket von bilateralen Verträgen abgeschlossen, was ich hier behandelt habe.
Die Reaktionen waren ungefähr so, wie vorgesehen. «Knebelvertrag», empörte sich der Journalist Philipp Gut (unter anderem Weltwoche) und der «Mass-voll»-Chef Nicolas Rimoldi rief nach den Hellebarden, um den «Unterwerfungsvertrag» zu bekämpfen. Die Hellebarde ist eine traditionelle Schweizer Hieb- und Stichwaffe. Und die Parlamentarier der Schweizerischen Volkspartei forderten unter anderem, dass Bundespräsidentin Viola Amherd zurück an den Herd geschickt wird.
Auch die schwerreichen Initianten der Kompassinitiative wollen mit einer Volksinitiative eine Einigung im Europadossier verhindern, wie sie jetzt zur Diskussion steht.
Auf der anderen Seite steht Tiana Angelina Moser, die Fraktionschefin der Grünliberalen. Sie wäre bereit, das Vertragspaket schon heute durchzuwinken, wie sie in einem sehr differenzierten Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zu verstehen gibt.
Die Wogen gehen also hoch, noch bevor alle Details bekannt sind. Ich bin dezidiert der Meinung, dass es zu früh ist für eine Abstimmungsempfehlung. Die Meinungsbildung steht dazu erst am Anfang und die Volksabstimmung dürfte erst 2028 stattfinden. Man wird das Paket nüchtern beurteilen müssen und nicht danach, ob einem der Verhandlungspartner sympathisch ist oder nicht. Und zwar, aus Schweizer Sicht, danach, ob es die Position der Schweiz stärkt oder schwächt und worin die Alternativen bestehen. Bis zum Abstimmungstermin dürfte Klarheit herrschen.
In der Zwischenzeit können aber Schweizer Forscher und Studenten wieder an den entsprechenden europäischen Programmen teilnehmen.
Die Schweiz hat mit der EU etwa 120 Verträge abgeschlossen. Sie zerfallen in drei Gruppen:
Da ist einmal der Freihandelsvertrag von 1972. Mit ihm wurde der Brückenschlag zwischen der EU als Zollunion und der Europäischen Freihandelszone (EFTA) geschafft. Somit herrscht in den Gebieten EU, EFTA (Norwegen, Schweiz, Liechtenstein und Island) Zollfreiheit. Nun sind aber mit der Zeit die nichttarifären Handelshemmnisse immer wichtiger geworden. Die EU hat deshalb anfangs der 90er Jahre den Europäischen Binnenmarkt realisiert.
Es geht darum, dass in der EU überall gleiche Regeln gelten sollen, der Markt dann aber für alle offensteht. Ich habe schon in diesem Newsletter auf sehr persönliche Art darüber geschrieben.
In der Tat bekam die Schweiz in den 90er Jahren die Quittung für das Abseitsstehen heftig zu spüren.
Dann gelang es, – zweitens – mit bilateralen Marktzugangsabkommen die Teilnahme Helvetiens am Binnenmarkt zu sichern. Fünf dieser Abkommen sollen nun durch einen Weiterentwicklungs- und Streitschlichtungsmechanismus ergänzt werden. Das Problem ist seit Jahrzehnten das Gleiche: Wie kann die Schweiz als Nichtmitglied beim Binnenmarkt, der sich ständig weiterentwickelt, dabei sein, ohne ihre Selbstbestimmung zu verlieren?
Die vorgeschlagenen Änderungen an den fünf Marktzugangsabkommen geben hier eine mögliche Antwort. Und die EU kommt der Schweiz in einigen Bereichen stärker entgegen, als sie dies gegenüber dem NATO- und ehemalige EU-Mitglied Großbritannien tut.
Und drittens gibt es viele Verträge, zum Beispiel Koordinationsabkommen, die von den geplanten Veränderungen nicht betroffen sind.
Lehnt die Schweiz nun das neue Paket ab, werden die bilateralen Verträge erodieren. Das wird zu einer Situation führen, wie sie Großbritannien heute kennt und wie wir sie in den 90er Jahren gesehen haben. Das wird man in der Schweiz im Alltag merken.
Zusätzlich wurden noch drei neue Abkommen und eine Schutzklausel für den Fall von übermäßiger Einwanderung ausgehandelt. Hier sind noch die meisten Unklarheiten. Gerade das Stromabkommen darf die Versorgungssicherheit nicht gefährden. Es war deshalb klug, diese Abkommen in separate Vorlagen zu packen. Es dürfte also dereinst vier Abstimmungen geben.
Fazit: Getrieben von einer äußerst kritischen Öffentlichkeit, haben die helvetischen Diplomaten gegenüber dem letzten Verhandlungsergebnis, das die Schweiz nicht akzeptierte, substanzielle Verbesserungen herausgeholt. Man würde sich wünschen, dass sie gegenüber der WHO ebenso selbstbewusst auftreten – und dass in Sachen Internationale Gesundheitsvorschriften (IGV) und Pandemievertrag die Öffentlichkeit endlich aufwacht und Druck auf die Politiker macht!
Ich hoffe, dass Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest verbracht haben. Bleiben Sie uns gewogen!
Daniel Funk