Der jüngste Entscheid der Schweizer Landesregierung, des Bundesrats, die Schweiz an zwei Projekten der Permanent Structured Cooperation (Pesco) der Europäischen Union (EU) teilhaben zu lassen, hat in der politischen Landschaft der Schweiz hohe Wellen geschlagen, wie diese Woche zum Beispiel die Tamedia-Zeitungen berichteten.
Viola Amherd, die Verteidigungsministerin, sieht sich aufgrund dieses Beschlusses mit scharfer Kritik aus verschiedenen Lagern konfrontiert. Der Bundesrat plant, die Schweiz stärker in die europäische Verteidigungszusammenarbeit einzubinden. Dies betrifft sowohl den Transport von militärischem Gerät als auch den Bereich der Cyberabwehr.
Ein besonders umstrittenes Projekt zielt darauf ab, den administrativen Aufwand für Truppenbewegungen aus EU-Staaten durch die Schweiz zu reduzieren. Dabei sollen auch Kooperationen mit Nicht-EU-Staaten wie den USA und Kanada erleichtert werden. Eine Bewilligung für solche Bewegungen wird es aber immer noch brauchen.
Trivial ist das nicht – beim Einsatz in Bosnien wurden der NATO diese Bewilligungen in der Regel gegeben, da diese Mission vom UNO-Sicherheitsrat gedeckt war. Es handelte sich meist um Überflüge. Beim Bombardement von Serbien wurden Überflüge von NATO-Maschinen hingegen nicht gestattet – die UNO hatte diesen Einsatz nicht bewilligt und er war deshalb völkerrechtswidrig. NATO-Maschinen, die zum Beispiel von einem deutschen Stützpunkt nach Serbien fliegen wollten, mussten Umwege fliegen.
Die NATO scheint sich enorm darüber zu nerven, dass sie bei jedem Überflug einer Militärmaschine und bei jedem Transport von militärischem Gerät fragen muss und dass die Antwort auch «nein» sein kann.
Ein weiteres Vorhaben betrifft die Verknüpfung von Computersimulationsumgebungen verschiedener Länder, um gemeinsame Cyberkriegsübungen durchzuführen. In einem internen Dokument des VBS, das Amherd an andere Departemente verteilt hat, wird zudem erwähnt, dass auch die Ukraine an diesem Projekt teilnehmen möchte. Das VBS versichert, dass eine Teilnahme der Schweiz zusammen mit der Ukraine im Einklang mit der Neutralitätspflicht stehe.
Diese Schritte haben innerhalb der Schweizerischen Volkspartei (SVP) zu starker Ablehnung geführt. Sicherheitspolitiker Mauro Tuena spricht von einem «Skandal» und wirft Amherd vor, die Schweizer Neutralität zu untergraben, indem sie die Schweiz schrittweise näher an die NATO und die EU heranführe.
Auch die Grünen zeigen sich besorgt, allerdings aus einem anderen Grund: Sicherheitspolitikerin Marionna Schlatter bemängelt, dass das Parlament bei einem so weitreichenden Entscheid nicht mitbestimmen konnte. Sie sieht hierin ein «ernsthaftes Demokratieproblem» und fordert eine breitere politische Diskussion.
Unterstützung erhält Amherd von der SP, insbesondere von Priska Seiler Graf, der Präsidentin der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats. Sie hält die geplanten Kooperationen für strategisch sinnvoll und betont, dass der Bundesrat bei solchen Entscheidungen nicht verpflichtet sei, das Parlament einzubeziehen. Auch die GLP teilt diese Ansicht und sieht in der verstärkten Zusammenarbeit keine Gefährdung der Schweizer Neutralität, sondern vielmehr eine Erhöhung der Sicherheit.
Die Frage, ob die Schweiz durch diese Projekte ihre Neutralität gefährdet oder lediglich zeitgemäß anpasst, bleibt ein heikles Thema. Kritiker wie Tuena und Schlatter sehen in den Entwicklungen jedoch eine gefährliche Abkehr von der traditionellen schweizerischen Zurückhaltung in militärischen Angelegenheiten. Ob diese Bedenken letztlich Gehör finden oder ob der eingeschlagene Kurs beibehalten wird, dürfte in den kommenden Monaten für hitzige Debatten sorgen.
In die gleiche Kerbe schlug kürzlich der emeritierte Berner Politologieprofessor Wolf Linder in einem Gastkommentar für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Er diskutierte die Bedeutung der Schweizer Neutralität in einer zunehmend multipolaren Welt und stellt die Frage, ob die Schweiz mehr Neutralität oder, wie von Amherd gewünscht, eine engere Anbindung an die NATO anstreben sollte.
Die Neutralität, die lange Zeit als selbstverständlich galt und kaum Beachtung fand, wurde durch den Ukraine-Krieg wieder in den Fokus gerückt. Die schweizerische Regierung übernahm EU-Sanktionen gegen Russland, was zu Diskussionen über die Aufgabe der Neutralität führte. Eine Volksinitiative, die die traditionelle Neutralität in der Verfassung verankern will, wurde erfolgreich lanciert. Gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung, die eine stärkere Partnerschaft mit der NATO fordert.
Der erste große Konfliktpunkt betrifft die Glaubwürdigkeit der Neutralität. Linder kritisiert, dass viele Argumente sich zu stark auf die Ukraine und Europa fokussieren. In einer globalisierten Welt müsse Neutralität jedoch universell und glaubwürdig auch außerhalb Europas, etwa in Asien, Afrika und den BRICS-Staaten, sein. Neutralität dürfe nicht in «Gut» und «Böse» unterteilen, sondern müsse unabhängig von momentanen politischen Strömungen und persönlichen Ansichten auf langfristige Verantwortung und universelle Friedensprinzipien setzen.
Der zweite Konfliktpunkt betrifft die Rolle von Sanktionen. Politische Sanktionen seien oft Ausdruck von Machtpolitik und träfen vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten. Linder argumentiert, dass die Schweiz Sanktionen nur dann übernehmen sollte, wenn sie von einer breiten internationalen Legitimation, wie etwa den Vereinten Nationen, getragen werden. Statt auf Sanktionen zu setzen, solle die Schweiz ihre Tradition der friedlichen Konfliktvermittlung fortsetzen und wirtschaftliche Beziehungen zu allen Ländern offenhalten, um langfristig zu einer friedlicheren Welt beizutragen.
Der dritte Punkt betrifft die Annäherung an die NATO. Linder warnt davor, dass eine solche Annäherung die schweizerische Neutralität gefährden könnte. Die NATO habe sich seit ihrer Gründung stark verändert und verfolge heute auch militärische Ziele außerhalb des ursprünglichen Verteidigungsmandats. Dies stehe im Widerspruch zur Schweizer Neutralität. Linder plädiert dafür, die Neutralität in der Verfassung zu verankern, um sie gegen schleichende Erosion zu schützen.
Zusammenfassend betont Wolf Linder, dass die Neutralität der Schweiz auch in einer multipolaren Welt von großer Bedeutung sei. Er warnt davor, sie aus kurzfristigen sicherheitspolitischen Überlegungen heraus aufzugeben. Neutralität könne weltweit zum Frieden beitragen, indem sie unabhängig bleibt und sich nicht einem der großen Machtblöcke anschließt.
Kommentar Transition News
Dieser Beitrag ist Teil einer losen Artikelserie über die schweizerische Neutralität. Der letzte Artikel ist hier zu finden und weitere Links sind im Artikel selber.
Das Neutralitätsrecht als völkerrechtliche Verpflichtung schreibt recht wenig vor. In diesem Sinne haben Amherd und Seiler Graf vielleicht im engeren Sinne sogar Recht, dass sich ihre Pläne durchaus mit der Neutralität vereinbaren lassen.
Dass eine NATO-Mitgliedschaft in der Schweizer Bevölkerung keine Mehrheit findet, wissen sie. Und politischen Selbstmord begehen, wollen sie nicht – sie wissen ebenfalls, dass eine solche Mitgliedschaft dem Staatsvertragsreferendum untersteht und Stand heute keine Chance hat.
Aber das ist nicht der Punkt. Entscheidend ist die Außenwahrnehmung, ob ein neutrales Land auch als solches wahrgenommen wird. Und da tauchen immer mehr Fragezeichen auf.
Wir haben also auf der einen Seite die Bemühungen um Annäherung an die NATO und andererseits die Initiative, die Neutralität in der Verfassung festschreiben will.
Transition News ist entschieden der Meinung, dass man der Initiative zustimmen sollte. Eine solche Verfassungsbestimmung würde der Landesregierung, dem Bundesrat, den Rücken stärken gegenüber Druckversuchen aus dem Ausland.
Selbstverständlich bedeutet Neutralität keine Gesinnungsneutralität. Wenn man versucht, beide Seiten zu verstehen und ins Gespräch zu bringen, dann heißt das noch nicht, dass man sich ihre Meinungen und Positionen zu eigen macht. Das war immer so.
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