Es ist ein seltenes und scharfes politisches Signal: Der Solothurner Nationalrat Rémy Wyssmann (SVP) greift zu einem ungewöhnlichen Mittel, um seiner Sorge über das Verhalten der Schweizer Landesregierung, des Bundesrats, Ausdruck zu verleihen. Mit einer formellen Aufsichtsanzeige fordert er die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Parlaments auf, das Vorgehen der Regierung im Zusammenhang mit den revidierten Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) der Weltgesundheitsorganisation WHO zu prüfen. Wyssmann sieht darin nichts weniger als einen «Souveränitätsverlust durch die Hintertür», wie die Medien diese Woche meldeten (hier und hier).
Im Kern geht es um die Frage, ob der Bundesrat die im Jahr 2024 beschlossenen Änderungen der WHO-Vorschriften ohne ausdrückliche Zustimmung des Parlaments übernehmen darf. Für Wyssmann steht fest: Nein. Er beruft sich auf eine mit Zweidrittelmehrheit angenommene Motion seines Parteikollegen Andreas Glarner. Diese verlangt, dass der Bundesrat internationale Gesundheitsabkommen dem Parlament zur Genehmigung vorlegt. Die Landesregierung, so der Vorwurf, ignoriere diesen klaren Parlamentswillen und bleibe in einem «gemächlichen Vernehmlassungsmodus» stecken.
Die Aufsichtsanzeige ist ein politisches Mittel ohne unmittelbare rechtliche Konsequenzen. Sie ermöglicht jedoch eine Untersuchung durch die GPK, ob der Bundesrat seine Kompetenzen überschritten hat. Meist bleibt ein solches Verfahren diskret – Wyssmann aber geht bewusst an die Öffentlichkeit. Er will den Druck erhöhen:
«Ich erwarte, dass die GPK prüft, ob der Bundesrat das Parlament umgeht», sagt er.
Konkret steht die Schweiz unter Zeitdruck: Bis zum 19. Juli 2025 kann der Bundesrat bei der WHO formell Vorbehalte gegen die neuen IGV anmelden (Opting-out). Tut er das nicht, treten die überarbeiteten Vorschriften automatisch in Kraft – ohne weitere parlamentarische Genehmigung.
Die neuen Regeln sehen unter anderem die Möglichkeit vor, elektronische Gesundheitszertifikate auszustellen und verstärkte Maßnahmen gegen Desinformation im Pandemiefall zu ergreifen. Für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist der Aufruhr unbegründet. Sprecher Simon Ming betont:
«Die Schweiz bleibt auch unter den neuen IGV vollständig souverän in ihrer Gesundheitspolitik. Gesetzesänderungen sind nicht notwendig, neue finanzielle Verpflichtungen entstehen keine.»
Wyssmann sieht das anders. Er erinnert an die Pandemiezeit, als sich Schweizer Behörden und Gerichte stark an WHO-Vorgaben orientierten – aus seiner Sicht zu stark.
«Die WHO versteht sich zunehmend als entscheidende Instanz», warnt er.
Besonders problematisch sei die angedachte Regulierung von Desinformation. Zwar sollen die Staaten selbst entscheiden, wie sie solche Maßnahmen umsetzen – doch Wyssmann fürchtet einen «faktischen Zwang» und eine Aushöhlung der Meinungsfreiheit.
Die politische Ausgangslage ist allerdings komplexer als von Wyssmann dargestellt. Zwar wurde die erwähnte Motion Glarner im Parlament angenommen. Weitergehende Vorstöße, die sämtliche IGV-Änderungen der parlamentarischen Genehmigung unterstellen wollten, scheiterten jedoch deutlich. So lehnte der Nationalrat im März 2025 eine entsprechende SVP-Motion mit 125 zu 65 Stimmen ab.
Am Ende geht es bei Wyssmanns Anzeige um mehr als nur WHO-Regeln. Der SVP-Nationalrat fordert klare demokratische Kontrolle über internationale Verpflichtungen – und stellt sich damit bewusst gegen das, was er als technokratischen Automatismus empfindet. Ob die GPK seine Bedenken teilt, bleibt offen.
Hier geht es zur Medienmitteilung des Aktionsbündnisses freie Schweiz (ABF Schweiz), das die entsprechenden Gutachten verfasste.
Hier geht es zum Bericht über die Aufsichtsanzeige von Wyssmann des ABF Schweiz.
Kommentare