Die Schweiz hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zur internationalen Drehscheibe für den sogenannten Suizidtourismus entwickelt. Organisationen wie Dignitas oder Pegasos bieten medizinisch assistierten Suizid nicht nur für Schweizer Staatsangehörige an, sondern auch für Menschen aus aller Welt. Der Preis: rund 11.000 US-Dollar – für die «Begleitung in den Tod».
Was bislang von staatlichen Behörden überwacht wurde, ändert sich nun grundlegend. Der Kanton Solothurn hat in diesem Frühling eine neue Regelung eingeführt, die künftig auf eine umfassende medizinisch-juristische Nachuntersuchung verzichten will – sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Das Ziel: Kostenersparnis und Entlastung der Justiz.
Im Zentrum der neuen Praxis steht die Kamera. Die Sterbeorganisation Pegasos verpflichtet sich, den gesamten Vorgang aufzuzeichnen. Auf dem Video ist eine Person zu sehen, die auf einem Bett liegt, eine Ventilöffnung betätigt und sich selbst eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital verabreicht – das ist der finale Akt. Diese Aufnahmen sollen künftig als Beleg ausreichen, dass der Tod selbstgewählt war. Wenn das Videomaterial vollständig ist und bestimmte zusätzliche Informationen dokumentiert werden, wird keine Staatsanwaltschaft und kein Gerichtsmediziner mehr hinzugezogen.
Stattdessen erfolgt nur noch eine oberflächliche Untersuchung des Leichnams in einer medizinischen Einrichtung. Die Kosten für diese neue Form der «vereinfachten Nachkontrolle» liegen zwischen 1000 und 2000 Schweizer Franken – zu zahlen durch die Sterbeorganisation, also letztlich durch die verstorbene Person selbst. Die Behörden versprechen sich davon eine erhebliche Einsparung für den Steuerzahler. Denn die Zahl der Fälle nimmt rasant zu.
Wie die Presse diese Woche berichtete, plant Solothurn zudem, dass alle Pflegeheime mit öffentlichem Auftrag im Kanton verpflichtet werden, Sterbehilfe zuzulassen, um das Selbstbestimmungsrecht von Menschen am Lebensende zu stärken. Der Regierungsrat hat eine entsprechende Änderung des Gesundheitsgesetzes zur Vernehmlassung geschickt. Derzeit ist Sterbehilfe in Solothurn nicht gesetzlich geregelt, und es liegt in der Verantwortung der einzelnen Einrichtungen, externen Sterbehilfeorganisationen den Zutritt zu gewähren. Etwa die Hälfte der Pflegeheime erlaubt dies bereits, während in anderen Fällen Betroffene in Hotels oder andere Heime ausweichen müssen, was eine erhebliche Belastung darstellt.
Zukünftig sollen Pflegeheime mit öffentlichem Auftrag verpflichtet werden, externen Sterbehilfeorganisationen den Zutritt zu gewähren, wenn strenge Anforderungen erfüllt sind: Die Person muss urteilsfähig, ihr Sterbewunsch von Dauer und ohne äußeren Druck entstanden sein, es muss schweres Leiden vorliegen und alle Alternativen müssen ausgeschöpft sein. Ärzte und eine unabhängige Zweitmeinung garantieren die Einhaltung dieser Voraussetzungen. Die Behörden werden nach dem Suizid die rechtlichen Rahmenbedingungen prüfen.
Spitäler und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sind von dieser Regelung ausgenommen. Diese müssen künftig lediglich eine verstärkte Informationspflicht über ihre internen Regelungen zur Sterbehilfe einführen.
Allein im letzten Jahr begingen über 1700 Menschen in der Schweiz assistierten Suizid. Hinzu kamen rund 500 Personen aus dem Ausland – eine Zahl, die sich laut Beobachtern bis 2035 verdoppeln könnte. Der Trend ist eindeutig: Die Nachfrage steigt, die Hürden sinken, und der Tod wird zunehmend als individuell planbare Entscheidung betrachtet – mit allem, was dazugehört: Beratung, Organisation, medizinische Begleitung, Video-Dokumentation.
Doch diese Entwicklung ruft auch Kritik hervor. Der Bioethiker Wesley Smith, der die Situation vor Ort in Zürich beobachtete, warnt:
«Wir leben in einer nihilistischen Zeit. Menschen, die krank, alt oder verzweifelt sind, fühlen sich oft allein gelassen – und statt ihnen Hoffnung zu geben, bieten wir ihnen eine letzte Dienstleistung an: den Tod.»
Er sieht in der neuen Praxis einen gefährlichen gesellschaftlichen Richtungswechsel: weg von Fürsorge und Prävention, hin zu einer technokratisch verwalteten Exit-Strategie.
Auch ethische Fragen stehen im Raum. Der assistierte Suizid ist in der Schweiz nur legal, wenn er nicht aus «egoistischen Gründen» erfolgt. Doch wie selbstlos ist ein System, das für das Sterben mehrere Tausend Franken verlangt? Und was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sie es als Fortschritt betrachtet, die Kontrolle über den Tod aus Effizienzgründen zu lockern?
Die Organisation Pegasos, mit der der Kanton Solothurn die Vereinbarung geschlossen hat, versteht ihr Angebot als Ausdruck von Selbstbestimmung und Menschenwürde. Kritiker hingegen befürchten eine schleichende Normalisierung und Ökonomisierung des Todes. Schon heute wird über eine Ausweitung der Zielgruppen diskutiert – etwa auf Menschen mit psychischen Erkrankungen oder chronischen Leiden ohne unmittelbare Lebensgefahr.
Für die Schweiz bedeutet diese Entwicklung eine Gratwanderung zwischen Pionierrolle in Sachen Sterbehilfe und ethischer Entgrenzung. Die neue Regelung in Solothurn könnte dabei zum Präzedenzfall werden – national wie international.
Die Frage bleibt: Wenn der Tod zur Dienstleistung wird – was sagt das über unsere Haltung zum Leben?
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