Einen «Siegesplan» will der Kiewer Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag bei einem Treffen mit US-Präsident Joseph Biden in den USA vorstellen. Wie wenig das mit einem Friedensplan zu tun hat, zeigte schon der Beginn von Selenskyjs Reise in die USA am Sonntag: Zuerst besuchte er Berichten zufolge eine Fabrik in Scranton im Bundesstaat Pennsylvania, in der 155-mm-Kaliber-Granaten für Artilleriegeschütze hergestellt werden.
Bisher sind kaum Details von Selenskyjs angekündigtem «Siegesplan» bekannt, den der US-Präsident als Erster lesen soll, wie es heißt. Die ukrainische Zeitung The Kyiv Independent zitierte am Samstag einen Berater aus dem Umfeld des Kiewer Präsidenten, wonach das Ziel sei, dass Russland Selenskyjs «Friedensformel» und den sogenannten Friedensgipfel «nicht länger ignorieren kann».
Die ukrainische Zeitung zitierte außerdem den US-Abgeordneten James Panetta von den Demokraten, der zuvor in Kiew war:
«Das Problem ist, dass Russland das Gefühl haben muss, dass es verlieren wird, damit wir überhaupt zu Friedensverhandlungen kommen, und so weit sind wir noch nicht.»
Die britische Zeitung The Times veröffentlichte am Sonntag weitere Informationen zum «Siegesplan» aus Kiew. Demnach will Selenskyj von Biden unter anderem Sicherheitsgarantien einfordern, die der Beistandsgarantie nach Artikel 5 des NATO-Vertrags entsprechen.
Der Kiewer Präsident habe vor seiner US-Reise erklärt, er wolle mehr westliche Unterstützung, damit die Ukraine noch vor Jahresende aus einer Position der Stärke heraus Gespräche aufnehmen könne. Zugleich solle das «trump-sicher» gemacht werden, da nach einem Wahlsieg von Donald Trump befürchtet wird, dass dieser ein schnelles Kriegsende befördern könnte. Die Zeitung nennt vier Kernpunkte des «Siegesplanes»:
«erstens die Bitte um Sicherheitsgarantien des Westens, die dem gegenseitigen Verteidigungspakt der Nato-Mitgliedschaft entsprechen; zweitens die Fortsetzung des Einmarsches der Ukraine in die russische Region Kursk, um ein Druckmittel in den territorialen Verhandlungen zu haben; drittens die Bitte um ‹spezifische› fortschrittliche Waffen; und viertens internationale Finanzhilfen für die angeschlagene Wirtschaft der Ukraine.»
Laut Kyiv Independent ist eines «der entscheidenden Elemente» des Planes «wahrscheinlich die Zustimmung der USA und anderer Verbündeter, dass die Ukraine Langstreckenwaffen einsetzen darf, um militärische Ziele tief im Inneren Russlands anzugreifen». Die Times sieht es aber als unwahrscheinlich an, dass diese Erlaubnis kommt. Zudem sei es wenig wahrscheinlich, dass eine solche Freigabe den Verlauf des Krieges ändere.
Das britische Blatt zitiert Matthew Savill, Direktor für Militärwissenschaften bei der Denkfabrik Rusi, der erklärt, Russland müsse zu einem Kompromiss gezwungen werden:
«Das ist keine Abschreckung. Das ist Nötigung. Man muss die Kosten der Invasion so weit in die Höhe treiben, dass Putin sie nicht mehr für tragbar hält – sie ist einfach zu teuer und zu schwierig. Aber das muss so schmerzhaft sein, dass es ihn im Grunde zum Rückzug zwingt.»
Es sei nicht klar, wie Russland eine Niederlage zugefügt werden könne, die «nicht existenziell» sei und unterhalb der Schwelle zu einer größeren Eskalation liege. Militäranalytiker und Diplomaten sind sich der Zeitung zufolge weitgehend einig, dass die Ukraine «kurz- bis mittelfristig keine Aussicht hat, die Russen aus den besetzten Gebieten im Osten des Landes zu vertreiben».
Ein NATO-Diplomat habe das bestätigt und gesagt, dass jegliche Verhandlungen «sehr, sehr, sehr kompliziert und schmerzhaft für die Ukraine» wären. Aber es sei «definitiv nicht die Grundlage für die Verhandlungen», was Trump-Vize James D. Vance vorschlägt: den Konflikt entlang der aktuellen Frontlinien einzufrieren und die Ukraine zu zwingen, neutral zu bleiben.
Laut der Times wird die Zeitspanne, um den «Siegesplan» von Selenskyj umzusetzen, mit etwa zwei Jahren berechnet. Vertreter der US-Regierung haben bereits erklärt, dass sie den Plan in seinen bisher bekannten Konturen für «praktikabel» halten, wie es in einem anderen Times-Beitrag zum Thema heißt.
Dessen Autor Mark Galeotti zitierte einen deutschen Diplomaten, der gesagt habe:
«Ich weiß nicht, ob es den Sieg über die Russen bringen wird, aber es soll uns wahrscheinlich dazu zwingen, in der Reihe zu bleiben.»
Galeotti erinnert daran, dass Selenskyj jeden Waffenstillstand, jedes «Einfrieren des Krieges oder andere Manipulationen, die die russische Aggression einfach auf einen späteren Zeitpunkt verschieben», ablehnt. Sein einflussreicher Berater Mykhailo Podolyak lehne es ebenfalls ab, Territorium an Russland abzutreten.
Zugleich sei die tatsächliche westliche Unterstützung für Kiew «trotz aller hochtrabenden Rhetorik begrenzt und unsicher». Hinter den Kulissen im Westen, insbesondere in der Europäischen Union (EU) gebe es eine weit verbreitete «Ukraine-Müdigkeit». Außer in Polen und Großbritannien wachse in europäischen Ländern das Gefühl, «dass es an der Zeit sein könnte, den Krieg zu beenden, selbst wenn dies bedeutet, einen ‹hässlichen Frieden› zu schaffen».
Der Westen habe bis heute keine Strategie für einen «Sieg» Kiews und sei sich nicht klar darüber, was dieser bedeuten könnte:
«Bedeutet er einfach die Vertreibung der russischen Invasoren? Oder dass Moskau die ukrainische Souveränität nicht einschränken kann? Oder – im anderen Extrem – einen so katastrophalen Schlag gegen die Moral und die Kriegskapazitäten Russlands, dass es in absehbarer Zukunft keine erneute Bedrohung darstellen kann?»
Galeotti weist unter anderem darauf hin, dass die Weigerung Kiews, territoriale Verluste hinzunehmen, zu einem «endlosen Krieg» führe. Ab einem bestimmten Punkt werde eine gewisse Erschöpfung einsetzen und der Krieg wahrscheinlich zwischen Episoden brutaler Kämpfe und vorübergehenden Waffenruhen pendeln, «aber er wird nicht enden».
Er macht außerdem darauf aufmerksam, dass die bisher verweigerte Einladung der NATO an die Ukraine, Mitglied des westlichen Militärbündnisses zu werden, dazu führen könne, dass Kiew Atomwaffen als «letzte Garanten ihrer Sicherheit» anstrebt.
Der Autor sieht keine Anzeichen dafür, dass Selenskyj in Richtung eines möglichen Waffenstillstandes denkt, der zu einem Ende des Tötens und einer Friedensperspektive für die restliche Ukraine führen könnte. Er zitiert einen ukrainischen Beamten, der meint, dass die Nationalisten den Kiewer Präsidenten zu Fall bringen würden, «wenn er über Zugeständnisse sprechen würde».
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