«Dies ist nicht mehr das zivilisierte Israel, das ich seit vielen Jahrzehnten besucht und über das ich berichtet habe.» Das schreibt der investigative US-Journalist Seymour Hersh in einem aktuellen Beitrag. Darin geht er anhand des Dokumentarfilms «Investigating War Crimes in Gaza» des arabischen Senders Al Jazeera auf den seit einem Jahr andauernden israelischen Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser ein.
Hersh bezeichnet den Film als «scharfe Anklage» gegen das israelische Vorgehen vor allem gegen die wehrlosen Zivilisten. Er erinnert daran, dass die israelische Armee IDF bei ihrem Feldzug im Gaza-Streifen weder alle israelischen Geiseln befreien noch das kilometerlange und weiterverzweigte Tunnelsystem der Hamas-Kämpfer zerstören konnte.
«Die andauernden Luftangriffe führten zur wahllosen Tötung von Männern, Frauen und Kindern, Tag und Nacht, in Häusern, Wohnungen und Bürogebäuden. Gaza, die Heimat von mehr als zwei Millionen Palästinensern, wurde durch die Bombenangriffe, die schließlich kaum noch Spuren der Zivilisation hinterließen, in Stücke gerissen.»
Israel habe den Krieg auf das Westjordanland und auf den Libanon ausgeweitet, so der US-Journalist. Gleichzeitig habe die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu und mit religiösen Fanatikern in Schlüsselministerien das eigene Land in die Wirtschaftskrise getrieben.
Statt eine vernünftige Lösung für Frieden zu suchen, setze Tel Aviv seinen Eskalationskurs fort, auch in Richtung Iran, unterstützt vom US-geführten Westen. Die Folge:
«Mord liegt in der Luft im Nahen Osten, und es gibt keine internationale Führungspersönlichkeit – schon gar nicht in der Biden-Regierung – mit dem Ansehen und dem Willen, dies zu verhindern.»
Hersh verweist deutlich auf die Unterstützung für Netanjahus Kriegskurs durch die US-Regierung unter Joseph Biden. Israel habe seit dem 7. Oktober 2023 allein Militärhilfe im Wert von 18 Milliarden Dollar bekommen. Gleichzeitig habe Biden seine Unterstützung für Netanjahu mehrfach öffentlich bekundet, während seine außenpolitischen Berater wie Außenminister Antony Blinken mit ihren Reden vom möglichen Waffenstillstand verstummt seien.
Der Journalist stellt fest, dass in dem Al Jazeera-Dokumentarfilm insbesondere die «gefühllose Gleichgültigkeit der israelischen Soldaten» bei ihrem Vorgehen im Gaza-Streifen zu sehen sei. Die verkündeten militärischen Ziele seien nicht erreicht worden und der erwartete intensive Bodenkrieg mit der palästinensischen Widerstandsorganisation Hamas ausgeblieben.
Stattdessen seien in dem Film Ausschnitte aus Videos israelischer Soldaten zu sehen, die sich beim Plündern und Zerstören palästinensischer Häuser und Wohnungen filmten. Zu sehen sei auch, wie Soldaten ungeschützt auf einem Hausdach stehen und jubeln, als etwas entfernt davon ein anderes Haus wahrscheinlich durch eine Sprengung in sich zusammenfällt.
«Die Videos, die über die sozialen Medien an Freunde und Familien in der Heimat weitergeleitet wurden, strotzen vor Verachtung für die Palästinenser, als wären alle Männer in Gaza und ihre Frauen und Kinder Hardcore-Mitglieder der Hamas.»
Hersh hatte als Journalist unter anderem über das Massaker von My Lai berichtet, das US-Soldaten im Vietnam-Krieg verübten. Ebenso hatte er die Foltermethoden von US-Militärs im irakischen Gefängnis Abu Ghraib nach dem Einmarsch der USA in den Irak 2003 mit aufgedeckt.
Deshalb sei ihm verständlich, dass Soldaten in Kriegen «schreckliche Dinge tun, einschließlich Vergewaltigung und Mord an Nichtkombattanten». Doch anders als beispielsweise bei den Fotos von Abu Ghraib, die nicht nach außen drangen, würden die Aufnahmen israelischer Soldaten vom Vernichtungsfeldzug im Gaza-Streifen an die Außenwelt gesendet, mit Wissen der befehlshabenden Offiziere.
«Solche Beweise für die anhaltende Korruption in der Offiziersklasse lassen sich angesichts der heutigen Degradierung der politischen und militärischen Führung Israels möglicherweise kurzfristig nicht beheben.»
Laut Hersh zeigen in dem Film Aufnahmen von einem Gewaltmarsch «evakuierter» palästinensischer Zivilisten in den Süden, bewacht und angetrieben von israelischen Soldaten, «eine Form der grundlosen kollektiven Bestrafung, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg nur noch selten zu beobachten war».
Netanjahu und die religiösen Extremisten in der israelischen Führung würden den Gaza-Streifen und das Westjordanland für eine mögliche künftige israelische Siedler-Herrschaft in den Blick nehmen. Unter welchen Bedingungen die verbleibenden Palästinensern dort leben könnten, sei unklar, auf jeden Fall nicht unter einer Selbstverwaltung wie bisher.
Der US-Journalist macht auch darauf aufmerksam, dass eine genaue Zahl der Todesopfer des israelischen Vernichtungsfeldzuges seit einem Jahr noch nicht möglich sei. Die Schätzungen würden derzeit von der offiziellen Zahl des Gesundheitsministeriums in Gaza von mehr als 41.000 bis zu viermal so hohen akademischen Hochrechnungen reichen.
Zugleich verwiest er auf den Fanatismus von Netanjahu und solcher Regierungsextremisten wie Finanzminister Bezalel Smotrich hin. So habe der Regierungschef israelische Soldaten kurz vor ihrem Einsatz im Oktober 2023 an Aussagen im Alten Testament erinnert, wonach Gott den Israeliten aufgab, ihre Feinde, die Amalekiter, zu vernichten. Smotrich habe am 30. April dieses Jahres die «totale Vernichtung» der Feinde Israels gefordert.
Hersh kommt am Schluss seines Beitrages zur eingangs zitierten Feststellung, das sei «nicht mehr das zivilisierte Israel», das er kannte. Und er bezweifelt, dass im Weißen Haus die Worte der israelischen Fanatiker in Regierungsämtern beachtet werden, während weiter Geld und Waffen an diese geliefert würden.
Kommentare