Diesen Artikel als Podcast hören:
Fast wie an «9/11» starrten heute vor einem Jahr die meisten Menschen gebannt auf einen Bildschirm. Das Unmögliche war geschehen: Tausende bewaffneter Palästinenser brachen aus dem größten und bestbewachten «Freiluftgefängnis» der Welt aus und griffen Israel an. Es handelte sich um Qassam-Brigaden, den militärischen Arm der palästinensischen Organisation Hamas, sowie um Kämpfer anderer Gruppen aus dem Gaza-Streifen. Manche von ihnen waren Berichten zufolge mit Captagon aufgeputscht. Ihr Ziel war es vorrangig, Militärbasen anzugreifen sowie Geiseln zu nehmen. Doch es ging auch darum, Israelis zu töten. Ein Teil der Kämpfer stiess auf tausende meist ebenfalls aufgeputschte Israelis und Feiernde aus anderen Ländern, viele davon Jugendliche.
«In einer Sekunde vom Paradies zur Hölle», beschrieb Elad Hakim, was dann an der Nova-Outdoor-Trance-Party geschah. «Es war einfach ein Massaker, ein totales Massaker», erinnert sich der 26-jährige Arik Nani. Er hatte sich stundenlang versteckt, nachdem das Festival angegriffen worden war, und sah die Folgen der Schiesserei auf die fliehenden Menschen. Die Videos dieses Gemetzels sind kaum zu ertragen. Die unglücklichen Raver wurden zum Freiwild. Die in Schutzbunkern Eingepferchten wurden mit Granaten beworfen. 364 Festivalteilnehmer kamen ums Leben. 40 wurden als Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt. Allerdings wissen wir inzwischen, das ein Teil der Todesopfer laut Zeugenaussagen von Israelis auf das Konto der israelischen Streitkräften (IDF) selbst geht.
So berichtete das israelische Online-Magazin Ynet, dass ein Hubschraubergeschwader-Kommandeur am 7. Oktober den Befehl gegeben haben soll, «auf alles zu schießen», was die Piloten am Boden im Grenzbereich sehen würden. Das galt neben dem Festival-Gelände zum Beispiel auch für eine von Hamas-Kämpfern eroberte IDF-Basis, auf der Soldaten gefangen gehalten wurden (wir berichteten).
Andere Hamas-Kämpfer stießen auf das Kibbuz Be’eri. Dort nahmen sie Geiseln. Eine davon ist Yasmin Porat. Sie hat sowohl die Geiselnahme als auch den Angriff auf die Trance-Party überlebt. In einem Interview mit dem israelischen staatlichen Rundfunksender Kan berichtet sie, dass die IDF in Be’eri durch ihr rücksichtslose Vorgehen viele Zivilisten getötet habe: «Sie haben alle getötet, auch die Geiseln» (wir berichteten). Gemäß Electronic Intifada töteten die IDF an dem Tag Hunderte Israelis.
Das alles beruht auf der sogenannten «Hannibal-Direktive», wonach die IDF angehalten ist, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine Gefangen- oder Geiselnahme zu verhindern, auch wenn dies im Extremfall den Tod von Soldaten oder Zivilisten bedeutet. Denn Geiseln sind Verhandlungsmasse. Selbst eine UN-Kommission stellte in einem im Juni 2024 veröffentlichten Bericht fest, dass die IDF am 7. Oktober in mehreren Fällen die Hannibal-Richtlinie angewendet haben.
In der «Lückenpresse» bleiben diese Berichte meines Wissens bis heute unerwähnt. Auf jeden Fall waren sie nie ein großes Thema. Ebenso ausgelassen oder zur Nebensache gemacht wurden die Hamas-Angriffe auf Militärbasen und Polizeistationen. Attacken auf Zivilisten erzeugen eben mehr Empörung. Wie anders sich das anhört, wenn Israel zum Beispiel ein Krankenhaus oder eine Schule, sogar der UN, bombardiert. Es hätten sich da ein paar Hamas-Kämpfer versteckt, die Zivilisten als Schutzschilde benutzen, heisst es jeweils als Rechtfertigung von israelischer Seite, was medial ziemlich unkritisch in der Welt verbreitet wird. Auch wenn dem so ist: Es verstösst gegen das Völkerrecht.
Verschwiegen wird außerdem die langjährige Unterstützung der Hamas durch Israel. Das Ziel dabei war und ist, mit der Hamas als Gegenkraft zur PLO eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Auch die Tatsache, dass die IDF mehrmals über einen bevorstehenden Angriff der Hamas gewarnt wurde, jedoch untätig blieb, bleibt meist unerwähnt. Dafür wurden kurz nach dem Attentat Schauergeschichten über geköpfte Babys verbreitet, die sich als unwahr und reine Propaganda herausgestellt haben.
So groß die Empörung über den Terrorangriff und diese als «Fake News» entlarvten Abscheulichkeiten ist, so klein ist sie bei dem viel größeren Massaker der IDF in Gaza. Schließlich hat der Westen ein geopolitisches Interesse daran, dass die ehemalige britische Kolonie weiterhin als sein verlängerter Arm in der öl- und gasreichen Region bestehen bleibt. Da macht man gerne auch mal beide Augen zu. Und man erklärt, dieser Konflikt habe am 7. Oktober 2023 begonnen, anstatt 1948 oder sogar noch früher. Genauso wie der Krieg in der Ukraine angeblich am 24. Februar 2022 begonnen haben soll, als der russische Präsident Vladimir Putin mit dem falschen Fuß aufgestanden sein und beschlossen haben soll, «unprovoziert» das Nachbarland anzugreifen. Auch das ist Propaganda durch das Weglassen von Informationen. Diese beliebte Technik ermöglicht es, nicht die Wahrheit zu sagen, ohne direkt zu lügen.
Was die Gründe der westlichen Toleranz gegenüber der Brutalität der IDF und ihre Unterstützung Israels betrifft, darf man die mächtigen jüdischen und israelischen Lobbyorganisationen, vor allem in den USA, nicht vergessen. Die US-amerikanischen Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt gehen in ihrem Buch «The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy» von 2006 darauf ein. Allen voran sind dabei die Anti-Defamation League (ADL) und das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) zu erwähnen. Diese Organisationen tragen auch maßgeblich dazu bei, dass jegliche Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung als «Antisemitismus» bezeichnet wird.
Kaum entfernt sich ein westlicher Politiker ein wenig von der bedingungslosen Unterstützung Israels, tobt dessen Premierminister Benjamin Netanjahu und das «verirrte Schaf» wird zurückgepfiffen. So forderte der französische Präsident Emmanuel Macron gestern einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel für den Krieg in Gaza. Nun bemühe er sich aber «um versöhnlichere Töne», schreibt die Tagesschau. «Bibi» habe nämlich Macrons Forderung als «Schande» bezeichnet. Macrons Büro versichere Israel militärische Unterstützung, sollte der Iran oder einer seiner Stellvertreter angreifen.
In Israel selbst geben momentan rechtsextreme messianische Hardliner den Ton an. In diese Richtung geht auch das Denken von Netanjahu, und er braucht diese Fanatiker und religiösen Extremisten, um an der Macht zu bleiben. Ein neuer Dokumentarfilm des türkischen Senders TRT World offenbart auf eindrückliche Weise den mörderischen Fanatismus jüdischer Siedler im Westjordanland (wir berichteten). Ihr Ziel ist es, die Palästinenser zu vertreiben. Sie streben sogar ein biblisches «Großisrael» an, das vom Euphrat bis zum Nil reichen soll. Die Arte-Dokumentation «Israel - Extremisten an der Macht» befasst sich ebenfalls mit dem Thema.
Der religiöse Fanatismus dieser Endzeit-Ideologen bringt sie nun dazu, mit der Möglichkeit eines globalen Atomkonflikts zu spielen, weil sie glauben, dass dieses Endzeitszenario die Ankunft des Messias herbeiführen werde. Christlich-zionistische Fundamentalisten unterstützen Israels Kriege derweil bedingungslos. Religiöse Fanatiker gibt es jedoch auch in islamischen Ländern.
«Bibi» beruft sich in der Tat gerne auf die Bibel, um die Gräueltaten seiner Armee zu rechtfertigen. Er tut dies jedoch selektiv, wie auch die Premierministerin von Barbados, Mia Mottley, an der UN-Generalversammlung vor zehn Tagen feststellte.
So verwendete Netanjahu beispielsweise den Begriff «Amalek» für die Palästinenser. In dem entsprechenden alttestamentarischen Gebot geht es darum, alle Amalekiter auszurotten, weil sie die Juden beim Auszug aus Ägypten angegriffen hätten. Weder ihre Kinder noch ihr Vieh sollten dabei verschont und alles, was sie besitzen, vernichtet werden. Zum Beispiel heißt es jedoch im zweiten Buch Mose: «Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmahl für Brandmahl, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.»
Diese Stelle wird oft dahingehend interpretiert, dass man bei entstandenem Schaden gleichermassen zurückzahlen solle. Tatsächlich geht es jedoch um Wiedergutmachung für den Schaden, der dem Gegner zugefügt worden ist.
Gnadenlos war denn auch die Reaktion Israels auf die Terrorangriffe des 7. Oktober: Laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza gab es bislang über 40.000 Tote. Der Gazastreifen liegt in Trümmen, die humanitäre Lage ist katastrophal. Etwa 90 Prozent der Bewohner wurden aus ihren Häusern vertrieben.
Israels erklärte Ziele sind dennoch weiterhin unerreicht: Etwa 100 Geiseln befinden sich noch immer in den Händen der Hamas, welche noch nicht besiegt ist, und die Sicherheitslage in Israel wird immer prekärer. Daniel Shek vom Hostages Families Forum ist denn auch «nicht zuversichtlich, aber hoffnungsvoll, dass die Hamas-Geiseln bald frei sein werden», wie er im August im Interview mit Transition News erklärte.
Inzwischen ist der Krieg zu einem Flächenbrand geworden. Netanjahu zufolge kämpft Israel nun einen Krieg an sieben Fronten gegen die verschiedenen Mitglieder der Achse des Widerstands. Darunter der Iran, die Hamas, die Hisbollah, die Ansarallah im Jemen, irakische und syrische Widerstandsgruppen sowie palästinensische Widerstandsgruppen im Westjordanland.
Die Regierung hat kürzlich ein viertes Kriegsziel verkündet: Den etwa 65.000 evakuierten Bewohnern des Nordens Israels die Rückkehr zu ermöglichen. Ein Jahr nach dem Beginn der jüngsten Bombardierung des Gazastreifens scheint die IDF im Libanon auf dieselbe Art und Weise vorzugehen. Evakuierungsbefehle werden ausgegeben und die entsprechenden Wohngebiete dann zerbombt. Diesmal mit der Rechtfertigung, es handle sich um Hisbollah-Hochburgen. Doch wie in Gaza fallen die Bomben auch auf Zivilisten und sogar auf vermeintlich sichere Gegenden.
Schwer getroffen wurde in den letzten Tagen insbesondere Dahieh, ein südlicher Vorort von Beirut. Über eine Million Binnenflüchtlinge bangen im Libanon bereits um ihre Existenz. Bei etwa 5,3 Millionen Einwohnern. Zu allem Übel hat die IDF letzte Woche nach libanesischen Angaben auch einen Grenzübergang zwischen dem Libanon und Syrien bombardiert und somit die Flucht in das benachbarte Land erschwert. Dem schon vor diesem Krieg wirtschaftlich schwer angeschlagenen «Zedernland» droht ebenfalls eine humanitäre Katastrophe. Israel wird auch dieser Krieg nicht sicherer machen. Die Hisbollah ist nämlich gerade aufgrund früherer bewaffneter Konflikte gegen Israel erstarkt und seine Miliz hat die IDF im Jahr 2000 aus dem Süden Libanons vertrieben, das seit 1982 von ihr besetzt war.
365 Tage nach «10/7» erwartet die Welt nun die angekündigte Reaktion Israels auf den massiven Raketen-Angriff durch den Iran in der letzten Woche. Sie könnte gerade am Jahrestag des Hamas-Angriffs erfolgen. Die Islamische Republik wird zurückschlagen. Der Dritte Weltkrieg war noch nie so nahe.
Dass es auch anders gehen könnte, als weiter an der Gewaltspirale zu drehen, zeigen Israelis und Palästinenser, die in zahlreichen Organisationen zusammenkommen, um Dialog, Zusammenarbeit und Frieden zu fördern. Eine davon ist der Parents Circle, der sich aus mehr als 700 israelischen und palästinensischen Familien zusammensetzt, die Angehörige in dem Konflikt verloren haben. Anstatt Rache zu üben, arbeiten diese Familien zusammen, um Versöhnung und Gewaltlosigkeit zu fördern. Sie «verurteilen die anhaltende Gewalt in der Region zutiefst und von Herzen» und machen klar:
«Der unerbittliche Kreislauf des Konflikts hat unschuldigen Menschen unermesslichen Schmerz und Leid zugefügt. Es ist eine Zeit großer Trauer, da wir wissen, dass zahllose Familien nun die Last der Leere in ihren Herzen und die schwere Last der Trauer aufgrund des tragischen Verlusts ihrer Angehörigen tragen. (...) Worte allein können zwar die Wunden nicht heilen oder die verlorenen Menschenleben zurückbringen, aber sie können uns an unsere gemeinsame Verantwortung erinnern, diesen Kreislauf der Gewalt zu beenden. Es liegt an uns, unermüdlich auf eine Zukunft hinzuarbeiten, in der die Menschen in dieser Region ohne Angst leben können, in der Kinder in Sicherheit aufwachsen können und in der die Saat der Hoffnung aufgehen kann.»
Ein weiteres Beispiel einer sochen Versöhnung sind die Combatants for Peace (Kämpfer für den Frieden). Die Bewegung wurde von ehemaligen israelischen Soldaten und palästinensischen Kämpfern gegründet, die sich entschieden haben, der Gewalt abzuschwören und sich gemeinsam für den Frieden einzusetzen.
Kommentare