Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ist «immer noch der Liebling der extremen religiösen Rechten in Israel und steht in den Umfragen hoch im Kurs, mit dem Blut von Zehntausenden in Gaza und im Libanon und einigen im Iran auf seiner Seele». Das schreibt der investigative US-Journalist Seymour Hersh in seinem am Donnerstag veröffentlichten Beitrag. Darin beschreibt er außerdem, wie Israel einen Waffenstillstand im Libanon nur vortäuscht.
Netanjahu habe «die Hamas besiegt, die Hisbollah in die Enge getrieben und die Fähigkeit des Iran, sich gegen künftige israelische Luftangriffe zu verteidigen, weitgehend zerstört». Er habe Feinde ermordet und die Wut eines Großteils der Welt über die anhaltenden Angriffe Israels auf das schutzlose Gaza ignoriert». Zugleich habe er sich der anhaltenden politischen und militärischen Unterstützung des Weißen Hauses unter Joseph Biden erfreut.
Israels Premier könne sich «auf noch mehr Unterstützung durch die kommende Trump-Regierung» freuen. Bomben und Dollars würden weiterhin aus den USA nach Israel fließen, während die Wirtschaft dort weiter einbreche und zahlreiche Firmen aus dem High-Tech-Bereich das Land verließen.
Hersh macht darauf aufmerksam, dass die Söhne des Kriegsherren Netanjahu keine Uniform tragen. Seit dem 7. Oktober 2023 hätten sie «ein Leben in Sicherheit und Wohlstand geführt – einer in London und der andere in Miami –, während ihre Altersgenossen im Krieg waren». Währenddessen hätten Netanjahu und seine Untergebenen in der Regierung «die Sprache auf den Kopf gestellt und weiterhin Unschuldige in Gaza, im Westjordanland, in Beirut und in Baalbek bombardiert».
Das jüngste Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und dem Libanon sei «ein perfektes Beispiel für diese Doppelzüngigkeit», so der US-Journalist. Ein Experte für internationale Verhandlungen habe ihm gegenüber eine vernichtende Einschätzung des Waffenstillstands abgegeben, während westliche Medien diesen «als bedeutenden Schritt in Richtung Frieden» gefeiert haben.
Der Experte habe von einem «seltsamen Abkommen» gesprochen:
«Es gibt keine unterzeichnenden Parteien im Namen von Land A oder Land B. Es ist nicht einmal ein Abkommen. Es ist eine Ankündigung der USA und Frankreichs, dass sie X, Y und Z verstehen. Es geht nur darum, was die USA und Frankreich verstehen, aber nicht um die Verpflichtungen der Parteien.»
Der Waffenstillstand sei in keiner Weise rechtlich bindend und anders als offiziell behauptet, nicht auf Dauer angelegt, zitiert Hersh den Experten. Er macht auch darauf aufmerksam, dass die meisten Soldaten der libanesische Armee (LAF), die den Frieden überwachen soll, «Israel als Feind betrachten, insbesondere da Israel ein Drittel des Landes niederbrennt». Die Armee werde sich niemals gegen die Hisbollah einsetzen lassen. Zugleich habe der Experte gefragt, warum die USA zulassen, dass die Israelis Soldaten und Offiziere der LAF töten.
Das israelische Militär und die israelische Luftwaffe hätten ihre Angriffe im Südlibanon unter der Schirmherrschaft eines Waffenstillstandsabkommens zwischen den USA und Israel fortgesetzt. Solche Angriffe seien bis zu fünfzehn Meilen nördlich der Grenze zu Israel erlaubt, «und manchmal auch Meilen über diese Grenze hinaus, wenn der Geheimdienst dies für erforderlich hält».
Das Abkommen solle den Menschen ermöglichen, die aus ihren Häusern im Norden Israels und im Süden des Libanon geflohen waren, zurückzukehren. Die Straßen auf beiden Seiten der Grenze seien voller verzweifelter Menschen, die nach Hause zurückkehren wollten. Und: Viele der zurückkehrenden Libanesen sind schiitische Anhänger der Hisbollah.
Westliche Medien berichten, dass die fast täglichen israelischen Bombenangriffe im Libanon hauptsächlich auf Ziele der Hisbollah gerichtet seien. Doch dem sei nicht so, zitiert Hersh den Experten, der den Nahen Osten seit Jahrzehnten beobachte.
«Israelische Jets bombardierten nicht Hisbollah-Stellungen im gesamten Libanon. Sie zerstörten jedes schiitische Dorf und jedes schiitische Viertel im Land. Sie zerstörten Krankenhäuser, Schulen und Moscheen sowie soziale und finanzielle Einrichtungen und griffen Krankenwagenfahrer und Mitarbeiter des Rettungsdienstes an.»
Die USA würden trotz ihrer öffentlichen Unterstützung für den Waffenstillstand gleichzeitig den israelischen Krieg im Libanon weiter fördern. Washington sei «kein neutraler und wohlmeinender Beobachter». Würden die USA den Libanon zusammenhalten wollten, müssten sie Israel unter Druck setzen, sich zurückzuziehen, erklärte der Experte laut Hersh.
Die Biden-Regierung habe sich nicht in der Diplomatie engagiert. Sie habe «lediglich israelische Ultimaten überbracht, in denen die Hisbollah und der Libanon zur Kapitulation aufgefordert werden». Der US-Journalist berichtet, dass er darüber auch mit einem gut informierten US-Regierungsbeamten gesprochen habe, «der für seine Ehrlichkeit und Integrität bekannt ist».
Dieser habe sich unverblümt zur aktuellen Situation geäußert. Demnach warte Israel nicht auf den nächsten Versuch, sondern räume auf und festige seine derzeitige Position in ihrem Teil des Nahen Ostens. Der US-Beamte habe erklärt:
«Es ist eine Tatsache, dass, wenn ein Waffenstillstand im Nahen Osten gebrochen wird, die Israelis die ersten sind, die dies tun. Die Hisbollah versucht vorzugeben, dass sie immer noch eine Kraft sind, mit der man sich auseinandersetzen muss, aber es ist vorbei.»
Im Gaza-Streifen habe die Hamas ebenfalls verloren, zitiert Hersh seinen Gesprächspartner. Der habe erklärt: «Die Mutigen, die versucht haben zu kämpfen, sind alle tot, und alle, die noch übrig sind, sind zu feige, um zu kämpfen.» Für die Hamas sei ein weiterer Schlag gewesen, dass der Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, bei einem Staatsbesuch in Großbritannien erklärt habe, die palästinensische Organisation nicht mehr unterstützen zu wollen.
Die Frage «Was soll mit den zwei Millionen Palästinensern geschehen, die immer noch bombardiert und ausgehungert werden und denen sauberes Trinkwasser oder auch nur der Anschein einer angemessenen Unterkunft und sanitären Einrichtungen verwehrt wird, ohne dass es Anzeichen für Unterstützung aus der arabischen und westlichen Welt gibt und ohne dass es eine Möglichkeit gibt, aus Gaza zu fliehen?» habe der US-Beamte mit einer anderen Frage beantwortet: «Was ist mit den amerikanischen Ureinwohnern in den Ebenen der Dakotas geschehen?»
Der US-Journalist stellt fest, dass Netanjahu trotz seiner Lügen und seiner Weigerung, die Rückkehr der Geiseln zur Priorität zu machen, «genug Spielraum und politische Unterstützung von einer ängstlichen und unruhigen Öffentlichkeit, die seine Politik, den Krieg auf die Hamas, den Libanon und den Iran auszudehnen – die lange Zeit als die ultimative Bedrohung angesehen wurden – befürwortet». Die USA hätten ihm bisher den Rücken gestärkt und auch die Trump-Regierung werde «den amoralischen Premierminister uneingeschränkt unterstützen».
«Bald wird ein bedeutender Teil des Westjordanlands annektiert, womit die vagen Vorstellungen einer Zweistaatenlösung enden. Der rechtsextreme Flügel in Israel, dem Netanjahu verpflichtet ist, will Teile des nördlichen Gazastreifens, der derzeit geräumt wird, in eine israelische religiöse Kolonie umwandeln. Viele, die sich der Zwangsräumung mit vorgehaltener Waffe widersetzt haben, werden nun vertrieben.»
Die Frage, was mit den Menschen im Gaza-Streifen ist, die jetzt Tag für Tag oder Stunde für Stunde ums Überleben kämpfen, führe bei US-Regierungsbeamten zu einem resignierten Achselzucken. Hersh verweist darauf, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, «obwohl er wiederholt seine uneingeschränkte Unterstützung für Netanyahus Israel zum Ausdruck gebracht hat».
Trump habe keine Meinung zur Notlage der vielen Palästinenser, «die jetzt Verzweiflung, Hunger und möglicherweise den Tod erleben», geäußert. Zwar gebe es in dessen außenpolitischem Team «einige integre Personen», aber bisher scheine die einzige Sorge des wiedergewählten US-Präsidenten zu sein, dass Fotos von verstümmelten und toten Palästinensern seiner Meinung nach schlechte Publicity sind.