Er habe die Kriegsziele des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin «Bibi» Netanjahu nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 falsch eingeschätzt. Das gesteht der investigative US-Journalist Seymour Hersh in seinem jüngsten Text «It’s Bibi’s War» («Es ist Bibis Krieg») ein.
Hersh schreibt darin:
«Es steht heute ausser Frage, dass er den Krieg von den ersten Tagen an als Mittel zur Vernichtung der Hamas und zur Öffnung Israels für die Möglichkeit der Rückeroberung des gesamten Gazastreifens und des Westjordanlandes sah. Von den Osloer Verträgen und einer angeblich unabhängigen Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland würde dann keine Rede mehr sein.»
Der Journalist macht darauf aufmerksam, dass gegen Netanjahus Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser in Israel kaum Protest zu vernehmen sei. Er bezieht das insbesondere auf israelische Ex-Militärs, die sich in der Vergangenheit immer wieder kritisch zur israelischen Politik geäussert hätten.
«Wenn es darum geht, die Wahrheit herauszufinden, habe ich gelernt, dass frisch pensionierte Generäle der israelischen Luftwaffe oft die beste Anlaufstelle sind», schreibt er. Hier erinnert er daran, dass viele ehemalige Luftwaffenangehörige im Sommer 2023 gegen Netanjahus Pläne, das Rechtssystem umzubauen, protestiert hätten. Sie hätten sogar gedroht, ihren Reservedienst zu verweigern.
Doch seit dem 7. Oktober sei von ihnen nichts mehr öffentlich zu vernehmen gewesen. Dagegen hätten sie sich am «Truthahn-Schiessen» im Gaza-Streifen beteiligt, wie Luftangriffe ohne Flugabwehr und ohne Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen bezeichnet würden. Hersh über die Folgen:
«Die Bomben waren hauptverantwortlich für die Tötung und Verletzung von mittlerweile fast 100’000 Palästinensern, darunter viele Kinder. Es ist unmöglich zu wissen, wie viele Hamas-Kämpfer in dieser Zahl enthalten sind.»
Es sei nicht bekannt, ob sich auch nur ein israelischer Militärpilot öffentlich oder privat gegen die bis heute andauernden Bombardements ausgesprochen habe. Der Journalist erinnert auch daran, dass Israel und die USA die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag für Israels Vorgehen nicht anerkannt hätten.
Er berichtet, dass in der israelischen Führung mit den US-Beratern nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober erwogen worden sei, die Hamas-Führung wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen. Ein anderer Vorschlag sei gewesen, im Gegenzug für die Freilassung aller Geiseln die Hamas-Führung auszuweisen. Doch stattdessen habe sich die Netanjahu-Regierung entschieden, Gaza zu bombardieren und den Geheimdienst Mossad zu befehlen, alle Hamas-Führer im Ausland zu ermorden.
«Der andauernde Luftkrieg im Gazastreifen mit seiner impliziten Vorstellung von kollektiver Bestrafung» sei von Beginn an Netanjahus Krieg gewesen. Der israelische Ministerpräsident habe klargemacht, nicht an einem Gefangenenaustausch oder an einem Ende des Krieges mit der Hamas interessiert zu sein.
«Er will die Hamas tot sehen, mitsamt ihren Anführern, und sie soll verschwinden. Und er hat die grosse Mehrheit der Israelis hinter sich, einschliesslich des Militärs und der einst verachteten extremen Rechten.»
Dabei werde die uneingeschränkte Unterstützung durch die USA erwartet – von Waffenlieferungen bis hin zum Veto in der Uno, wenn Israel verurteilt wird. Dies erfolge auch immer, so Hersh. Dabei würden jegliche US-amerikanische Bedenken beiseite gewischt.
Der 86-Jährige schreibt, dass viele Beobachter nach dem 7. Oktober meinten, Netanjahu würde den Hamas-Angriff politisch nicht überleben. Aber das sei längst kein Thema mehr, und der Ministerpräsident habe weiter das Sagen und geniesse das. Dieser habe behauptet, Israel habe «mehr als zwanzigtausend Hamas-Terroristen getötet und verwundet ... und wir tun alles, was wir können, um die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten, und werden dies auch weiterhin tun.»
Hersh fühlt sich dabei an Aussagen von US-Militärs «in den schlimmsten Tagen des Vietnam-Krieges» erinnert. Netanjahu gebe sich siegessicher und habe in einem Interview mit dem Sender ABC erklärt:
«Jeder, der von einer Zwei-Staaten-Lösung spricht – nun, ich frage, was meinen Sie damit? Sollen die Palästinenser eine Armee haben? ... Können sie einen Militärpakt mit dem Iran schliessen? Dürfen sie Raketen aus Nordkorea und andere tödliche Waffen importieren? Sollen sie ihre Kinder weiterhin für Terrorismus und Vernichtung ausbilden? ... Natürlich nicht.»
Der US-Journalist glaubt, dass Netanjahu jetzt in Israel unangefochten ist und seinen Willen durchsetzt. Von den Osloer Verträgen und einer angeblich unabhängigen palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland sei keine Rede mehr.
Ein israelischer Kontaktmann mit Insiderwissen habe anfangs die Bomben auf den Gaza-Streifen gerechtfertigt. Das rücksichtslose militärische Vorgehen sei auch ein Zeichen an Israels Nachbarn gewesen. Sie sollten damit abgeschreckt werden. Inzwischen sei der Insider der Meinung, das «Problem» sei nicht Israels Krieg mit der Hamas, sondern «Bibis Krieg gegen die Palästinensische Autonomiebehörde und die Idee eines unabhängigen Staates».
Zudem sei er besorgt, dass der Krieg ohne einen Plan für die Zeit danach geführt werde. Hersh zitiert ausserdem einen Europäer, der seit Jahren in die Friedensbemühungen im Nahost-Konflikt einbezogen sei. Dieser habe gesagt, Israel «begeht einen Völkermord, und der grösste Teil der Welt ist entsetzt, und die meisten Araber und Muslime werden dies niemals verzeihen». Und:
«Die Palästinensische Autonomiebehörde ist diskreditiert ... Sie wird von den Menschen im Westjordanland gehasst, weil sie sie unterdrückt und nichts tut, um sie oder ihr Land vor israelischem Mord und israelischer Expansion zu schützen, und sie hat keine Unterstützung im Gazastreifen.»
korrigiert: 27.2.24 - 12:23
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