Der Widerstand der Palästinenser im Gaza-Streifen ist legal, sagt der Schweizer Geheimdienst- und Militärexperte Jacques Baud in einem aktuellen Interview. «Die Resolution 45/130 (1990) der Generalversammlung gibt den Palästinensern das Recht auf Widerstand ‹mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschliesslich dem bewaffneten Kampf›.»
Baud erinnert im Interview mit dem Schweizer Magazin Zeitgeschehen im Fokus (Ausgabe vom 17. November) daran, dass Israel in den palästinensischen Gebieten eine Besatzungsmacht ist. Folglich sei seine Präsenz in diesen Gebieten (Gaza und Westjordan-Land) «gemäss der Resolution 242 (1967) des Uno-Sicherheitsrats illegal».
Der Geheimdienstexperte und frühere Armee-Oberst war in verschiedenen internationalen Konfliktgebieten im Einsatz und unter anderem für die Nato in der Ukraine. Er widerspricht in dem Interview deutlich und klar den Erklärungen westlicher Politiker und Medien. So hatte unter anderem der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vor wenigen Tagen erneut behauptet, Israel nehme in Gaza sein Recht zur Selbstverteidigung wahr.
Israels international anerkannter Status sei der einer Besatzungsmacht, erinnert Baud. Als solches sei es «seine Verantwortung, die palästinensische Bevölkerung zu schützen, nicht zu zerstören». Gaza-Stadt als grösste palästinensische Stadt könnte in Folge der ununterbrochenen israelischen Bombardements als «unbewohnbar» gelten, wie selbst die israelische Zeitung Haaretz kürzlich feststellte (wir berichteten).
Der Geheimdienstexperte betont:
«Es ist bemerkenswert, dass Israel in einem Monat mehr Zivilisten getötet hat als die Russen und Ukrainer zusammen in mehr als 20 Monaten (nach der letzten Zählung der Uno). Dies zeigt die Brutalität der israelischen Reaktion.»
Er sagt zu den Zahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums von bereits mehr als 10’000 getöteten Zivilisten in Gaza, diese seien «nicht mehr oder weniger zuverlässig als die von Israel angegebenen Zahlen». Im Gegensatz zu den von Israel gemeldeten Opfern hätten die palästinensischen Opfer «jedoch einen Namen und eine feststehende Identität. Dies lässt vermuten, dass die palästinensischen Zahlen glaubwürdig sind».
Baud erinnert ebenso an drei Prinzipien, denen nach dem humanitären Völkerrecht der Einsatz von Waffen im Kampf unterliege:
- Die Differenzierung zwischen Zivilisten und Militärs (man muss das militärische Ziel wählen können, sonst schiesst man nicht);
- Verhältnismässigkeit (man muss eine verhältnismässige Reaktion auf den Angriff anwenden. Zum Beispiel ist die Eliminierung eines Hamas-Führers mit einer Fliegerbombe oder einer Rakete nicht verhältnismässig); a fortiori, der von einem israelischen Minister vorgeschlagene Einsatz der Atombombe gegen den Gazastreifen verstösst gegen dieses Prinzip.
- Das Vorsichtsprinzip (wenn man Gefahr läuft, Unschuldige zu töten, schiesst man nicht).
Israel wende seit vielen Jahren diese Grundsätze nicht an, betont der Experte und verweist auf entsprechende Beispiele, wie massive Bombeneinsätze gegen Hamas-Funktionäre mit zahlreichen toten Unbeteiligten. Doch keine westliche Regierung habe gegen diese Unverhältnismässigkeit jemals protestiert.
Dass westliche Politiker stattdessen die israelischen Regierungen bei ihrem Vorgehen noch unterstützen und ermutigen, kommentiert Baud deutlich:
«Wir werden von fanatischen Dummköpfen regiert, denn die israelische Regierung hat zwar das Recht – und die Pflicht –, ihre Bevölkerung zu schützen, aber die Methoden und Massnahmen dazu sind nicht unbegrenzt und müssen dem humanitären Völkerrecht oder Kriegsrecht entsprechen.»
Er verweist darauf, dass laut Medienberichten die israelische Armee nicht präzises Feuer, sondern «Vernichtungsfeuer» in Gaza gegen die Hamas einsetzt. Seine Schlussfolgerung:
«Die Situation ist also eindeutig: In einem Kampf in einem dicht besiedelten Gebiet verstösst das israelische Vorgehen gegen das Kriegsrecht.»
Ebenso macht Baud darauf aufmerksam, dass die viele in Israel die Palästinenser «immer als ein minderwertiges Volk» betrachtet haben und betrachten. So hat der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober von «menschlichen Tieren» gesprochen, die mit allen Mitteln bekämpft werden müssten.
Israel habe bisher keine der zahlreichen UNO-Resolutionen eingehalten und umgesetzt, die für eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts verabschiedet wurden. Das gelte insbesondere für die Resolution 181 vom November 1947, die die Gründung eines jüdischen und eines arabischen Staates vorsah.
«Sie werden feststellen, dass Israel und seine westlichen Verbündeten in den letzten 75 Jahren alles getan haben, damit diese Resolution nicht umgesetzt wird. Tatsächlich wurde sie nicht einmal an einem einzigen Tag umgesetzt.»
Baud äussert sich auch zum Thema Antisemitismus, ohne diesen Vorwurf wirklich zu hinterfragen: «Antisemitismus wird weniger durch Israels Handlungen ausgelöst als durch die Tatsache, dass es diese ungestraft durchführt.» Um das einzudämmen, müsse Israel wie jedes andere Land behandelt und ihm nicht das Recht zugestanden werden, das Völkerrecht zu missachten.
Kritiker betonen, dass der Neologismus, «israelbezogener Antisemitismus», erfunden wurde, um berechtigte Kritik an der militärischen Besetzung Palästinas durch Israel mit Judenhass (Antisemitismus) zu vermischen. Das sei höchst manipulativ: «Kritiker beispielsweise der verbrecherischen israelischen Besatzungspolitik in Palästina werden in Bausch und Bogen als Antisemiten beschimpft und gar – beweislos – der Holocaust-Leugnung und des Geschichtsrevisionismus bezichtigt», so kürzlich die beiden Journalisten Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam in einem Beitrag für das Magazin Hintergrund.
Der Schweizer Militär- und Konfliktexperte meint, es gebe keine militärische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Zu den Gründen gehöre neben der schwindenden Macht der USA als globaler Hegemon «die Straflosigkeit Israels für seine Missachtung des internationalen Rechts», welche katastrophale Folgen habe. Auch in diesem Konflikt würden die Geheimdienste beider Seiten Friedensversuche diskutieren, «die dann von den Politikern abgelehnt wurden».
Er verweist zudem auf das von zionistischen und orthodoxen Kräften betriebene Projekt des «dritten Tempels Salomons». Damit würde der Felsendom, die dritte heilige Stätte des Islams, auf dem Tempelberg (Haram al-Scharif) in Jerusalem zerstört. Das könne «einen echten Krieg» auslösen, «der die gesamte muslimische Welt mobilisieren würde und bei dem es nicht sicher ist, ob Israel intakt bleiben würde».
Baud fordert eine politische Lösung des Konfliktes ein, die auf den UN-Resolutionen seit 1967 beruhen müsse. Das hätten auch die arabischen und islamischen Staaten auf ihrem Gipfel am 11. November in Riad vorgeschlagen. Die Lösung sollte aber nicht mehr in den Händen der USA liegen, sondern in denen der UNO.
Zum Schluss des Interviews betont er:
«Meine Befürchtung ist, dass angesichts der erhitzten Stimmung, die Wahrscheinlichkeit, dass Israel zerstört wird, grösser ist als die Wahrscheinlichkeit, dass es in den besetzten Gebieten einen Rückzieher macht (…).»
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2022 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop:
Kommentare