Die Einkommensungleichheit in Deutschland ist in der sogenannten Corona-Krise grösser geworden. Auch die Armutsquote hat bis 2022 neue Höchstwerte erreicht. Das zeigt der Verteilungsbericht 2023 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, der kürzlich veröffentlicht wurde.
Der Analyse nach hat das Folgen für das Ansehen staatlicher Institutionen in der Gesellschaft:
«Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in die Politik, rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Masse.»
Die alltäglichen Erfahrungen und Möglichkeiten von Menschen in Deutschland würden «ganz entscheidend» von ihrem Einkommen abhängen. Zu einem gesellschaftlichen Problem werde Einkommensungleichheit spätestens dann, wenn sie zu einer Entfremdung einzelner Gruppen vom demokratischen System beitrage.
Seit 2020 – und damit mit der sogenannten Corona-Krise – habe sich die Einkommensungleichheit verschärft, stellen die WSI-Forscher fest. «Eindeutig zugenommen» habe die Einkommensarmut. Als arm gelten gemäss der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren «bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen» weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt. Als «sehr arm» gelten Personen, die nicht einmal auf 50 Prozent kommen. Für einen Singlehaushalt entspricht das den Angaben nach maximal 1200 beziehungsweise 1000 Euro im Monat.
Laut dem Verteilungsbericht lebten im Jahr 2022 16,7 Prozent der 84,5 Millionen Menschen in Deutschland in Armut, 10,1 Prozent sogar in strenger Armut. 2010 seien es noch 14,5 und 7,7 Prozent gewesen. Das betraf 2022 insgesamt 14,1 Millionen Menschen beziehungsweise 8,5 Millionen Menschen in strenger Armut. 6,5 Millionen Menschen (7,7 Prozent) gelten als reich, da sie mehr als 200 Prozent des sogenannten Medianeinkommens haben.
Die Forscher machen darauf aufmerksam, «dass Armut selbst in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nicht selten mit deutlichen alltäglichen Entbehrungen verbunden ist». So sei bereits vor der Teuerungswelle für 17 Prozent der Menschen, die dauerhaft (fünf Jahre oder mehr) in Armut leben, neue Kleidung unerschwinglich gewesen. Mehr als die Hälfte der dauerhaft Armen habe keinerlei finanzielle Rücklagen.
Mehr als vier Prozent der dauerhaft Armen habe schon im Jahr vor der Energiepreisexplosion das Geld gefehlt, um die Wohnung angemessen zu heizen. Fünf Prozent von ihnen hätten sich nicht einmal neue Schuhe kaufen können. Armut habe auch Folgen für die Betroffenen hinsichtlich ihrer Lebenszufriedenheit und ihrer Gesundheit.
Während sich mehr als ein Drittel der Armen grosse Sorgen um ihre Gesundheit machen, plagen diese nur weniger als zehn Prozent der Einkommensreichen, so die WSI-Forscher. Laut ihren Angaben gibt es auch grosse Unterschiede in der gesellschaftlichen Achtung gegenüber Armen und Reichen.
Dauerhaft Arme würden «häufiger die Geringschätzung anderer Menschen» erleben, während vor allem Reiche sich häufig von anderen wertgeschätzt fühlten. Die Autoren des Verteilungsberichtes warnen, «Unterschiede im Erleben von Anerkennung und Missachtung können eine Entfremdung unterer Einkommensklassen von der Gesellschaft, aber auch vom politischen System begünstigen».
Laut der Analyse misstrauen dauerhaft Arme zu knapp 22 Prozent der Polizei und zu fast 37 Prozent dem Rechtssystem. «Ein geringes Vertrauen in den Bundestag geben knapp 19 Prozent der Einkommensreichen, gut 40 Prozent der temporär und gut 47 Prozent der dauerhaft Armen zu Protokoll», heisst es.
In Bezug auf die Politiker sprechen dem Bericht nach gut 58 der dauerhaft und fast 54 Prozent der temporär Armen von geringem Vertrauen. Gegenüber Parteien liege das bei 56 beziehungsweise knapp 54 Prozent. Die Forscher betonen:
«Allerdings äussert in beiden Fällen knapp die Hälfte der Menschen mit mittleren Einkommen ebenfalls erhebliche Skepsis. Nur unter den Einkommensreichen erwecken Parteien und Politikerinnen bei einer soliden Mehrheit von rund 63 Prozent grösseres oder grosses Vertrauen.»
Sie machen ebenfalls deutlich, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen der Krisen der letzten Jahre noch nicht abzuschätzen seien. Vieles deute darauf hin, «dass sie die soziale Spaltung in Deutschland vertieft haben». Die sogenannten Entlastungspakete der Bundesregierung seien «nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heissen Stein» gewesen. Sie hätten an den strukturellen Ursachen der wachsenden Ungleichheit nichts geändert.
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