Nach den Parlamentswahlen in Georgien formieren sich heftige Proteste gegen die Regierung. Die Opposition und proeuropäische Kräfte werfen der Regierungspartei «Georgischer Traum» systematische Wahlmanipulation vor und fordern eine Neuauszählung der Stimmen. Die zentrale Wahlkommission hat gestern angekündigt, die Ergebnisse in 14 Prozent der Wahllokale erneut zu überprüfen. Innerhalb der internationalen Beobachtergruppen herrscht Uneinigkeit über die Einschätzung: Während die OSZE keine schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten beobachtete, meldeten Vertreter des Europäischen Parlaments und der NATO «demokratische Rückschritte». Sie bemängeln Einschüchterungen von Wählern, Stimmenkauf und unfaire Bedingungen im Wahlkampf. Allerdings ist es die OSZE, die die Wahlbeobachter gestellt hat.
Am Montagabend versammelten sich Zehntausende in der Hauptstadt Tiflis. Auch Präsidentin Salome Surabischwili schloss sich dem Protest an und positionierte sich klar auf Seiten der Opposition. «Eure Stimmen wurden gestohlen, aber wir werden nicht zulassen, dass jemand unsere Zukunft stiehlt», rief sie der jubelnden Menge zu und schwor, die Bevölkerung auf dem Weg nach Europa zu unterstützen. Die Präsidentin hat in Georgien zwar eine weitgehend repräsentative Rolle, doch ihr Eintreten für die Opposition macht sie zur symbolischen Führungsfigur in einer zersplitterten politischen Landschaft. Besonders brisant: Surabischwili war 2018 mit Unterstützung des «Georgischen Traums» zur Präsidentin gewählt worden, lehnt jedoch zunehmend den als autokratisch kritisierten Kurs der Regierung ab.
In seinem Kommentar für die Schweizer Tamedia-Zeitungen sprach deren Brüsseler Korrespondent Stephan Israel von einer «offenkundig gefälschten Wahl». Woher weiß er das? Stimmt dieses Bild? Und im gleichen Aufwasch basht Israel auch den ungarischen Ministerpräsidenten Orban, der in der georgischen Hauptstadt Tiflis eintraf und der Regierung zur Wiederwahl gratulierte.
Das Land liegt im Kaukasus, eingeklemmt zwischen Russland, der Türkei, Armenien und Aserbaidschan. Georgisch ist eine Sprache mit eigenem Alphabet, das seit mindestens dem 5. Jahrhundert überliefert ist. Während früher Russisch lingua franca war, verliert diese Sprache nun rapide an Bedeutung. Die junge Generation spricht neben Georgisch überwiegend Englisch.
Georgien ist ein christlich-orthodoxes Land; schon im Jahr 337 wurde das Christentum Staatsreligion und die georgisch-orthodoxe Kirche ist seit langem autokephal, das heißt selbständig mit einem Patriarchen als Oberhaupt.
Nach einer Hochblüte des Landes zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert zerfiel Georgien und geriet unter osmanischen respektive persischen Einfluss. Im 18. Jahrhundert gelang es dem russischen Zarenreich sukzessive, Georgien zu annektieren. Nach einer kurzen Unabhängigkeitsphase nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Land im Kaukasus 1921 von der Roten Armee besetzt und in die Sowjetunion eingegliedert. Damals floh die Familie Surabischwili wie andere westlich orientierte Antikommunisten aus der Heimat nach Paris. Aber dazu später mehr.
Im Zusammenhang mit Glasnost und Perestroika entwickelte sich in den späten Achtzigerjahren eine starke Unabhängigkeitsbewegung. Im Rahmen des Zerfalls der Sowjetunion erklärte 1991 Georgien erneut seine Unabhängigkeit. Nach Jahren der Stagnation und der Korruption schien das Land in den Nullerjahren unter Präsident Micheil Saakaschwili seinen Weg zu finden.
Doch 2008 stichelte Russland gegen Georgien, und zwar in Abchasien und Südossetien, zwei Regionen mit einem großen nicht-georgischen Bevölkerungsanteil, und zog an deren Grenzen Truppen zusammen. Saakaschwili ließ sich provozieren und bombardierte die Stadt Zchinwali in Südossetien mit dem Ziel, es von einer Sezession abzuhalten. Russland aber packte die Gelegenheit und besetzte die beiden Gebiete. Damit ist es bis heute geblieben – ein georgisches Trauma.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt betrat Bidsina Iwanischwili die politische Bühne. In den turbulenten Jelzin-Jahren war dieser Oligarch in Russland zum Milliardär geworden. Als Saakaschwili nach dem verlorenen Waffengang zurücktrat, begann dieser aus dem Hintergrund die Fäden zu ziehen.
Bis zum 24. Februar 2022, dem Tag des Kriegsausbruchs in der Ukraine, ging alles gut. Iwanischwili schien mit seiner Partei, dem «Georgischen Traum», das Land auf Westkurs zu trimmen, inklusive dem Ziel der Aufnahme in die EU. Wirtschaftlich machte das Land große Fortschritte. Die Visumspflicht mit den EU-Ländern konnte abgeschafft werden. Bekam es Iwanischwili mit der Angst zu tun, dass Georgien nach der Ukraine zum nächsten Schlachtfeld wird? Oder will er Georgien dem russischen Modell angleichen, sei es aus Angst oder aus Sympathie für Putin? Die Opposition unterstellt ihm das Zweitere.
Richtig ist, dass der «Georgische Traum» nicht mehr von einer Westorientierung sprach. Offiziell ist das Land seit Ende 2023 Beitrittskandidat und die Regierung bekennt sich nach wie vor dazu. Auch diese Woche bestätigte sie, dass dies das wichtigste Ziel der neuen Legislaturperiode sei, was aber die westlichen Medien verschwiegen.
Die Regierung argumentiert, dass Russland nach der Türkei der zweitwichtigste Handelspartner ist und dass sämtlicher Verkehr von Armenien nach Russland über georgisches Gebiet verläuft, kurz: Georgien müsse sich seiner geopolitischen Lage bewusst sein und könne nicht so tun, wie wenn der große Nachbar Russland inexistent sei.
Der Westen hingegen beschuldigt Georgien immer öfter, obwohl offiziell prowestlich, aufgrund ihres pragmatischen Kurses gegenüber Russland, sich Moskau anzunähern. Georgien hat sich in den letzten Jahren zum Beispiel gegen westliche Sanktionsforderungen gegenüber Russland gestellt und schloss neue Handelsabkommen mit dem nördlichen Nachbarn ab. Der Regierung wird außerdem vorgeworfen, ein Gesetz gegen ausländische Einflussnahme erlassen zu haben, das besonders westliche NGOs betrifft. Kritiker sehen darin einen Versuch, die prowestlichen Kräfte im Land zu schwächen und den politischen Einfluss des Westens zurückzudrängen (zum Beispiel hier und hier).
Die Regierung sagt, dass das NGO-Gesetz lediglich Transparenz schafft und deren Kreise in keiner Art und Weise einschränkt und dass es ein solches Gesetz in den USA schon sehr lange gibt – das Letztere verschweigen die westlichen Medien und gehen nur auf das russische Pendant ein. Die Opposition sagt hingegen, dass es gerade diese Transparenz ist, die der Repression durch die Regierung Tür und Tor öffnet.
Das Anti-LGBT-Gesetz, das im Sommer angekündigt wurde, geht ziemlich weit und beschränkt nicht nur die Propaganda in Bildungseinrichtungen, wie es beispielsweise Ungarn getan hat. Es wird sich zeigen, ob mehr dahintersteckt als Wahlkampf in diesem nach wie vor ziemlich konservativen Land.
Das politische Klima in Georgien ist somit zunehmend polarisiert. Das hat damit zu tun, dass das Land genau wie die Ukraine und Moldawien an der Bruchlinie zwischen Ost und West liegt. Beide Seiten wollen es wohl auf ihre Seite ziehen. Die Regierungspartei «Georgischer Traum» steht unter Druck, sich stärker nach Moskau zu orientieren, während die pro-westliche Opposition Gefahr läuft, sich als verlängerter Arm der EU und der USA missbrauchen zu lassen. In diesem Spannungsfeld sehen sich die Menschen in Georgien zunehmend gefangen. Viele fürchten, dass das Land in einen Zustand anhaltender Instabilität gerät und die Demokratie eingeschränkt wird.
Die Ereignisse in Georgien erinnern an vergangene Farbrevolutionen, bei denen vom Westen unterstützte prowestliche Bewegungen autoritäre oder russlandfreundliche Regierungen herausforderten und zum Teil stürzten. Beobachter warnen, dass eine weitere Eskalation das Land in eine schwere politische Krise stürzen könnte.
Ministerpräsident Irakli Kobachidse hatte zum Beispiel angekündigt, Oppositionsparteien, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgen, möglicherweise zu verbieten. Kritiker sehen darin einen weiteren Schritt hin zu einem Einparteienregime. Solche Ankündigungen erwecken kein Vertrauen, auch wenn der «Georgische Traum» die dafür nötige 2/3-Mehrheit im Parlament verfehlte. Wahrscheinlich hat sich Iwanischwili von den Wahlen mehr erhofft als die etwa 53 Prozent, was die Aussage der OSZE unterstützt, dass von einer systematischen Wahlfälschung keine Rede sein kann. Aber die mafiösen Strukturen beim «Georgischen Traum», bei denen alles von einer superreichen Person abhängt, die im Hintergrund die Fäden zieht, machen misstrauisch, auch wenn diese Partei das Land bisher recht umsichtig geführt hat.
Die Opposition fordert Neuwahlen unter internationaler Aufsicht, um die Glaubwürdigkeit des Wahlergebnisses wiederherzustellen. Ihrer Ansicht nach sind die Wahlen gefälscht. Sie stützen sich dabei auf Nachwahlbefragungen. Sie hat bereits am Montag die ersten Protestveranstaltungen in Tiflis organisiert. Angeführt werden diese von Staatspräsidentin Salome Surabischwili. Diese hat die Sprache ihrer Vorfahren – ihre Großeltern waren wie oben erwähnt vor hundert Jahren aus dem Land geflüchtet – aus Büchern gelernt. Und sie war schon französische Diplomatin, als sie das Land ihrer Vorfahren das erste Mal besuchte. Der damalige Präsident Micheil Saakaschwili warb sie Mitte der Nullerjahre ab, als sie französische Botschafterin in Tiflis war. Seither ist sie in der georgischen Politik tätig. Sie ist also durch und durch eine westliche Politikerin, wurde aber 2018 vom «Georgischen Traum» für die Präsidentschaft portiert. Verfassungsreformen haben dazu geführt, dass dieses Amt nur noch zeremonieller Natur ist – die wichtigen Kompetenzen sind in den Händen der Regierung unter dem jungen Ministerpräsidenten Irakli Kobachidse vereinigt.
Damit ist das Feld abgesteckt: Die Regierungspartei, die im Verdacht steht, das Land Richtung Russland zu führen, auf der einen Seite, und die fragmentierte Opposition mit der Präsidentin französischer Herkunft, die im Verdacht steht, von den USA gesteuert und durch die entsprechenden NGOs bezahlt zu werden. Würde das Land nicht auf den geopolitischen Bruchlinien liegen, deren tektonische Platten sich im Moment stark reiben, dann würden wohl nicht beide Seiten derart verzweifelt versuchen, es in ihre Umlaufbahn zu ziehen. Und die Menschen? Sie wollen einfach ihr Leben leben. Auf dem Land sind sie mehrheitlich sehr konservativ – deshalb der Versuch, mit dem LGBT-Gesetz. In den Städten, vor allem der Hauptstadt Tiflis, ist die Sache weniger klar. Junge, gut ausgebildete Menschen möchten begreiflicherweise nicht riskieren, dass die EU wieder Visumpflicht für georgische Staatsbürger einführt.
Noch ist unklar, wie die Europäische Union auf die Proteste und die Manipulationsvorwürfe reagieren wird. EU-Beobachter haben bereits Verstöße und die schwierigen Bedingungen für die Opposition verurteilt, eine offizielle Stellungnahme steht jedoch noch aus. Sollte Brüssel die Wahl als rechtens anerkennen, wäre die Opposition in einer schwierigen Lage und müsste sich mit dem Ergebnis abfinden. Eine Ablehnung der Wahl durch die EU hingegen würde der Regierung stark zusetzen und könnte zu weiteren Unruhen führen.
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