Wie viele Menschen in Deutschland haben bereits eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 durchgemacht? Wie hoch ist die Dunkelziffer, also die Zahl der unentdeckt gebliebenen Infektionen? Welche Menschen sind häufiger von einer Infektion betroffen?
Mit diesen Fragen hat das Robert-Koch-Institut (RKI) zusammen mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) eine bundesweite Studie gestartet.
Von Anfang Oktober bis voraussichtlich Ende Dezember 2020 sollen dazu 34’000 Erwachsene getestet und befragt werden – per Post. Sie erhalten einen Fragebogen und Materialien für einen Mund-Nase-Abstrich sowie für eine Blutentnahme aus dem Finger zur Selbstbeprobung zugesandt.
Die Erhebung soll laut Angabe der beteiligten Institute «erstmals aussagekräftige Ergebnisse zum Antikörperstatus für ganz Deutschland» ermitteln.
Ein hehres Ziel und eine längst überfällige Massnahme, die allerdings bei genauerem Betrachten des Studiendesigns Fragen aufwirft.
So soll zum Beispiel anhand der Blutproben die sogenannte Seroprävalenz festgestellt werden, also wie viele Erwachsene in Deutschland bereits eine Infektion hatten. Dazu wird laut RKI-Angaben das Vorhandensein von Immunglobulin- G-(IgG)-Antikörpern gegen SARS-CoV-2 ermittelt.
Und darin zeigt sich bereits die erste Schwäche der Studie.
Neben den IgG-Antikörpern entwickeln sich nach einer Infektion nämlich unterschiedliche Immunglobuline in verschiedenen Phasen und Intensitäten.
Kurz erklärt:
• IgM (Immunglobulin M): IgM-Antikörper werden bereits früh während einer akuten Infektion gebildet.
• IgA (Immunglobulin A): IgA-Antikörper nehmen eine Mittelstellung ein – sie werden ebenfalls recht früh gebildet und sind länger nachweisbar als IgM.
• IgG (Immunglobulin G): IgG-Antikörper werden bei einer Infektion erst später gebildet und können je nach Art auch noch nach Jahren im Blut nachweisbar sein
©IMD Labor Berlin
Da ein exakter Zeitraum nach einer asymptomatischen Covid-19-Infektion nicht einzugrenzen ist, sollte auf jeden Fall parallel auf IgA getestet werden, um eine zuverlässige Aussage treffen zu können. Das zumindest schlagen Ärzte und Labore vor: «Die in Deutschland üblicherweise verwendeten Tests detektieren meist entweder IgA oder IgM zusätzlich zum IgG. (…) Die parallele Messung des IgA kann v. a. in der Frühphase sinnvoll sein, da auf diese Weise auch Fälle mit verzögerter IgG-Bildung erfasst werden können», empfiehlt beispielsweise der IMD Laborverbund.
Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass bei milden oder symptomlosen Verläufen die drei Antikörperklassen in deutlich geringerer Konzentrationen vorliegen. Das muss beachtet werden, wenn man eine vorausgegangene Infektion nachweisen will.
Eine weitere Schwäche der Studie ergibt sich durch den «Do-it-yourself-Abstrich» in Mund und Nase. Nicht nur, dass ein solcher Test aufgrund des durchaus schmerzhaften Empfindens nicht ausreichend gut erfolgt – wer piekt sich schon freiwillig tief in die Nase –, die Qualität dieser Proben ist auch äusserst fraglich. So empfiehlt das RKI an anderer Stelle ausschliesslich eine «angeleitete Selbstbeprobung». Sie kann Sicherheit für das medizinische Personal darstellen, soll aber von dem zu Testenden nur unter fachlicher Anleitung und Anwesenheit durchgeführt werden. Dann – und nur dann – erzielt man eine qualitative Übereinstimmung. Andernfalls kann man mit einer erheblichen Prozentzahl nicht valider Abstriche rechnen.
Meinung der Redaktion: Statt die Erhebung medizinischer Fakten optimal auszugestalten und fachmännisch durchzuführen, wird die Studie auch einen grossangelegten sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Teil enthalten. Darin zeigt sich deutlich der erhebliche Einfluss des DIW am Studiendesign. Diese Daten mögen an anderer Stelle angebracht und wichtig sein, den Blick auf die tatsächliche Covid-19-Lage in Deutschland schärfen sie an dieser Stelle nicht. Was im Moment benötigt wird, sind harte Fakten zum Infektionsgeschehen.