Deutschland, Schweiz, Österreich, Liechtenstein: Grenzüberschreitend im wahrsten Sinne des Wortes war das Publikum, das am 5. Juni zum Vortrag von Ulrike Guérot nach Vorarlberg in die Kulturbühne Ambach gepilgert war, in den äußersten Westen Österreichs. Rund 350 Besucher lauschten den Ausführungen der deutschen Politikwissenschaftlerin, die in eineinhalb Stunden durch ihr neues Buch «Zeitenwenden» führte und ein Plädoyer für ein vereintes Europa hielt.
«Europa ist eine Frau, sie ist eine Prinzessin, sie ist schön. Und das ist etwas anderes als die EU», erklärte Guérot als sie eine Zeichnung von «Europa» aus dem Jahr 1534 auf die Saalleinwand projizierte. Für den 500. Geburtstag dieses Bilds – also 2034 – erhofft sich die Wissenschaftlerin, dass «wir diese Karte wieder verstehen». Jedoch müssten die Europäer zuerst die Vernunft und dann die Demokratie wiederfinden, um Europa wieder erbauen zu können. «Ich glaube wirklich, das Einzige, was jetzt vernünftig ist, ist, darüber nachzudenken, wie wir 2049 – also 100 Jahre nach dem Bau des letzten internationalen Systems – als Europäer eine Idee entwerfen, wie wir in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert leben wollen.»
Allerdings müssen laut Guérot davor einige Fragen beantwortet werden: «Was ist Europa? Wollen wir, dass es Europa gibt? Wollen wir, dass es untergeht? Wie stark soll es sein? Wie soll es aussehen? Wie organisiert sein? Wie reich soll es sein? Soll Europa demokratisch, sozial, regional, subsidiär sein?» Eine derartige «Denkarbeit» und «Projektionen in eine Zukunft» seien notwendig, weil am Ende tatsächlich immer nur die «Idee von sich selber» zähle. «Das heißt, wir brauchen einen Prozess der Sinngebung in Europa.»
Und Nationalstaaten?
Europa kenne kein Konzept von Nationalstaaten, erläuterte Guérot weiter und verwies dabei immer wieder auf die alte Zeichnung. Denn Europa sei eben von Völkern, Ethnien oder Volksgruppen bevölkert. «Adel, Ritter, Kirche und Klöster – sie haben Europa gemacht. Wir haben eine Stadtkultur, eine Architektur, wir haben auch europäische Kunst-Epochen.» Ob bei Barock, Renaissance, Rokoko oder Gotik, es gelte, darin Muster zu erkennen, «die uns morgen helfen könnten, eine europäische Struktur zu finden, die uns in eine europäische Demokratie führt».
Europa sei «irgendwie zugemalt mit nationalen Grenzen, die auch nicht unbedingt Sinn ergeben», erklärte die Vortragende. Denn die Tiroler zum Beispiel würden es nicht schätzen, zwischen Italien und Österreich aufgeteilt zu sein, und wenn man Elsässer frage, ob sie deutsch oder französisch seien, bekomme man «Elsässer» als Antwort.
Harte NATO-Grenze
«Die Europa, wie in dieser Karte, stellt also ihre Füße auf Eurasien, sie blickt auf den Orient, und sie hält den Reichsapfel der Republik», erklärte die Vortragende. Aber heute werde diese Europa abgeschnitten von Eurasien, «weil sie gerade eine harte NATO-Grenze um ihren Bauch bekommt. Von Finnland und Schweden bis in die Türkei. Das ist so, als würde man Europa durchschneiden und der Torso fällt in den Atlantik.»
Für Guérot ist klar, dass die harte Grenze nach Eurasien kontraintuitiv ist. Aber auch Neoliberalisierung und Oligarchie: «Wir sind keine gesellschaftlich sozial entspannten Gesellschaften mehr.» Alle Studien zeigten, dass nur derjenige, der erbt, oben ist. Das habe nichts mit Leistungsgesellschaft zu tun. Die Annahme, dass, wer viel leistet, nach oben kommt, ist laut Guérot «Schnee von gestern und eine Märchenerzählung».
«Wenn wir uns also darauf einigen, dass Europa in der Karte ihre Füße auf Eurasien stellt, auf den Orient blickt – das ist der Spiegel, um uns selber zu verstehen –, den Reichsapfel für die Republik hält und keine kapitalistische Ordnung hat, dann machen wir heute in Europa alles falsch. Die Europa wird abgeschnitten von Eurasien, sie verrenkt sich, um nach Washington zu gucken, und sie hat keine republikanische Ordnung. Also haben wir uns verloren. Wir haben unsere Vernunft, unser Wissen, unsere Demokratie und unsere zivilisatorischen Stränge verloren, weil wir diese Karte nicht mehr lesen können.»
Republik und soziale Ordnung
Guérot möchte auch der «populistischen Welle» etwas entgegensetzen und sich als Europa nicht zwischen Okzident und Orient spalten lassen, da viel Wissen und viele Errungenschaften aus dem Orient nach Europa kamen. Statt dieser «Bereicherung» würden unsere Gesellschaften in Europa genauso gespalten und atomisiert wie die arabischen Gesellschaften, und zwar «im Wesentlichen von den Amerikanern – über diesen Neoliberalismus». Aber Europa sei eben anders, betonte sie:
«Wir sind Republik, wir haben Franz von Assisi und Hans im Glück, auch ein Christentum, das sagt, du sollst nicht horten.»
Europa habe eben unterschiedliche sozial-ökonomische Strukturen, die es zu bewahren gelte. Aber über eine neoliberalisierte Wirtschaftspolitik Anfang der 1980er Jahre sind die gesellschaftlichen Strukturen gesprengt und alle gemeinschaftlichen Konzepte wie Sozialismus, Kommunismus und das Christentum abgewandelt worden. «Das hat unsere Gesellschaft kaputtgemacht, weil es die Republik kaputtgemacht hat. Und da uns die Republik als normatives Konzept weggenommen wurde, funktionieren unsere Demokratien nicht mehr.»
Für die Wissenschaftlerin ist klar, dass die «Democracy Promotion» eigentlich militärischen Zwecken dient: «Wir hatten mal ein Völkerrecht, das ein Recht auf Nicht-Einmischung hatte, anstatt eine Responsibility-to-Protect.» Anstatt uns zu bekriegen, «weil Dschihadismus und Populismus aufeinander krachen», sollten «wir als Europäer nochmal darüber nachdenken können, ob wir das Mare Nostrum wieder zu uns umdrehen. Wir sollten darüber nachdenken, welche Kooperationsmöglichkeiten wir haben. Können wir uns mit dem Orient solidarisieren, anstatt diese Dschihadismus-Populismus Konfrontation aufzunehmen?»
«Was sind unsere Träume von uns selber, wie können wir uns wiederfinden?», fragte Guérot abschließend, als sie ein Video aus dem Trump-Wahlkampf vorführte, das mit US-amerikanischen Klischees gespickt, aber auch voll von Sehnsucht und positiven Visionen war, die Europa für sich noch entwickeln müsse.
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