Der 1928 entstandene Roman «Der Meister und Margarita» von Michail Bulgkow gilt als Klassiker, nicht nur weil er sich kritisch mit der autoritären Politik unter Stalin auseinandersetzt, sondern weil er selbst der Zensur zum Opfer fiel. Abgedruckt werden durfte er erst 1966 – und auch dann in zwei Teilen und mit rund 13 Prozent weniger Text.
Die ungekürzte Fassung erschien 1973 und avancierte innerhalb kurzer Zeit zum Meisterwerk. Im Prinzip erging es Bulgakow genauso wie seinem Protagonisten, einem namenlosen Autor, der wegen eines historischen Romans über Pontius Pilatus in Ungnade fällt. Die Handlung spielt in den 1930er Jahren, als in der Sowjetunion ein Klima der Angst herrscht. Staatliche Repressionen bestimmen den Alltag, geistige Abweichler werden an den Rand gedrängt, bisweilen mit rabiaten Mitteln.
So ergeht es auch dem namenlosen Protagonisten. Der als «Meister» eingeführte Schriftsteller verfällt in Verzweiflung, als sein Werk der Zensur zum Opfer fällt. Während er sich immer weiter aus der Welt zurückzieht, bemüht sich seine Geliebte Margarita darum, ihn wieder für das öffentliche Leben zu gewinnen – mithilfe Wolands, einer diabolischen Figur, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Der sowjetische Mephisto erscheint in Moskau mit einer skurrilen Entourage und rächt sich an allen, die den Meister ins Verderben gestürzt hatten. Ganz nebenbei werden Heuchelei, Gier und Scheinmoral enthüllt.
Filmische Adaption des Romans
Bulgakows Werk enthält realistische wie fantastische Elemente, es schwankt zwischen Groteske und Satire, zwischen historischem und Schlüsselroman. Seine Verfilmung ist nicht leicht zu realisieren. Es gab bereits mehrere Versuche, und der jüngste lässt sich derzeit in den deutschen Kinos bestaunen. Gedreht hat ihn der russisch-amerikanische Regisseur Michael Lockshin.
Sein Film weicht ein wenig vom Original ab, bedient sich streckenweise der Künstlichen Intelligenz und mündet gerade ab der zweiten Hälfte in Kitsch. In der ersten gelingt es ihm jedoch, die für den Roman zentralen Themen wie Korruption, Karrierismus und Doppelmoral effektvoll herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt stehen dabei die Schriftstellerkollegen des Meisters, die sich aus Feigheit oder Geltungsdrang gegen ihn stellen.
Die deutschen Rezensenten haben den Film überwiegend wohlwollend besprochen, nicht zuletzt deswegen, weil sie darin Parallelen zum gegenwärtigen Russland sehen. Keine Gelegenheit wird ausgelassen, um das zu erwähnen, selbst unterschwellig, wenn es darum geht, den Inhalt zu kontextualisieren.
Der Roman handle von der «Unterdrückung in Russland unter Stalin», heißt es etwa im Text der ARD-«Tagesschau». Bekanntlich war es damals die Sowjetunion, zu der die Ukraine ebenso gehörte wie Russland. Doch dieser nicht unwesentliche Aspekt bleibt unerwähnt. Stattdessen setzt man manipulativ auf die Kraft der Assoziation, um das Feindbild zu untermalen.
Auf einem Auge blind
Der Regisseur selbst hat sich nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs auf die Seite Kiews gestellt und Russland scharf kritisiert. In seinen Äußerungen zum Film ging er dabei über den militärischen Konflikt hinaus: «Wir wollten einen Film machen, der zwar in der Vergangenheit angesiedelt, aber heute aktuell ist», so Lockshin.
Das war eine Steilvorlage für die deutschen Rezensenten, die auf einem Auge blind sind und Repressionen wie geistige Enge wieder einmal nur andernorts sehen, nur nicht im eigenen Land. Dabei ließen sich problemlos Parallelen auch zur Gegenwart der Bundesrepublik herstellen, erst recht zur Zeit der drakonischen Corona-Politik.
In Lockshins Film will der Meister ein Theaterstück über Pontius Pilatus auf die Bühne bringen, eines, in dem die Wahrheit über die Lüge siegt. Genau deswegen gerät er unter die Räder der autoritären Regierung unter Stalin, dem die meisten Schriftsteller die Stiefel lecken. Der Meister wird wegen seines Stücks aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Sein Verleger distanziert sich von ihm öffentlich. Mitläufertum, Scheinmoral und Feigheit – das sind die Themen, die der Film aufgreift.
Michael Wendler, Nena und #allesdichtmachen
Gab es in der jüngsten Vergangenheit aber nicht Künstler, denen es in Deutschland ähnlich erging wie dem Meister? Michael Wendler etwa, der während der Corona-Krise in einem kurzen Social-Media-Video die Regierung für ihre Maßnahmenpolitik kritisierte und daraufhin Werbeverträge genauso verlor wie Auftritte, der medial diffamiert und von Kollegen unter Beschuss genommen wurde? Sein Manager agierte damals nicht anders als Meisters Verleger: In einem öffentlichkeitswirksamen Fernsehauftritt bescheinigte er Wendler psychische Verwirrung und distanzierte sich von ihm.
Zu dieser Parallele findet sich eine weitere, wenn man die Ereignisse rund um die Aktion #allesdichtmachen rekapituliert. Im Winter 2021 schlossen sich 53 namhafte Schauspieler und Filmschaffende zusammen, um in Einzelvideos ironisch pointiert auf die Widersprüche der Corona-Politik aufmerksam zu machen. Die scharfe Reaktion der Leitmedien blieb nicht aus.
Für die Teilnehmer brach die Hölle aus, auch weil keine geringe Zahl ihrer Kollegen sich gegen sie stellte. Manche #allesdichtmachen-Teilnehmer spüren die Folgen noch heute, ebenso wie Nena, die in jener Zeit für Selbstbestimmung eintrat und heute für so manche aus dem Kulturbetrieb derart verbrannt ist, dass sie ständig aufschreien, wenn die Künstlerin im Fernsehen auftritt.
Sanktionen gegen deutsche Blogger
Um die Parallelen zu Deutschland der Gegenwart zu erkennen, muss man aber nicht unbedingt in den Kulturbetrieb schauen. Es reicht aus, die aktuelle Sanktionspolitik zu betrachten. Von dem jüngsten EU-Paket sind auch die deutschen Blogger Alina Lipp und Thomas Röper betroffen, weil sie in ihrer Berichterstattung die russische Sicht auf den Ukraine-Konflikt darstellen. Wer nicht auf Linie ist, wird sanktioniert. Das gilt auch für Privatbürger und Journalisten, die in satirischen Memes führende Politiker der Bundesregierung kritisieren. Die sogenannte «Schwachkopfaffäre» ist nur ein Beispiel unter vielen.
Als Lockshins Film 2024 in Russland in die Kinos kam, strömten allein in der ersten Woche 1,5 Millionen Menschen in die Vorführungen. «Plötzlich war diese Geschichte keine surrealistische Parabel mehr auf Stalins Totalitarismus, sondern eine Story über den eigenen Alltag», deutet die Tagesschau-Rezensentin das große Interesse.
In Deutschland sehen sich den Film ebenfalls nicht wenige Menschen im Kino an – vielleicht weil auch sie darin eine Story über den eigenen Alltag erkennen. Nun müssen nur noch die deutschen Rezensenten diese geistige Leistung vollbringen.
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