Der Begriff «Krieg» sei für das von Israel seit etwa acht Monaten angerichtete Inferno in Gaza «eigentlich zu harmlos». Das sagte der Völkerrechtler und ehemalige Bundestagsabgeordnete Norman Paech am vergangenen Mittwoch, dem 4. September, in Berlin. Er stellte klar:
«Hier wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Völkermord verübt, den wir nach 1945 nicht mehr für möglich gehalten haben.»
Paech sprach im Berliner «Sprechsaal» in der Veranstaltungsreihe «Denkraum» des Kulturkreises Pankow. Er analysierte Ursachen, Strategien und die Chancen für Frieden in Palästina. Der 86-jährige Völkerrechtler kritisierte unter anderem die etablierten westlichen Medien, insbesondere die bundesdeutschen, die nur «einen Teil dessen, was wirklich an Grauen dort geschieht», übermitteln würden. Die hiesigen Medien und ihre Korrespondenten würden die «tödliche Realität» vor Ort nicht widerspiegeln und darüber nicht ausreichend informieren.
Prof. Norman Paech am 4. September im Berliner «Sprechsaal» (Foto: Tilo Gräser)
Das geschehe vor allem durch englischsprachige alternative Onlinemagazine wie Democracy Now oder Eletronic Intifada. Würden solche Quellen einfach übersetzt werden, wären die deutschen Mediennutzer «besser analytisch und faktisch informiert», so Paech. Er bezeichnete es als wichtig, sich mit den Gründen für diese «Kriegswut» auseinanderzusetzen. Zugleich befürchtete er, dass der Hintergrund der Kriegsziele und der Motive auf israelischer Seite zeige, dass der Krieg im Gaza-Streifen «noch lange dauern wird». So stellte Paech beim Blick auf die Hauptbeteiligten Israel, USA und Hamas fest:
«Netanjahu spricht aus, was er will – und man sollte ihn wirklich wortwörtlich nehmen –, nämlich die Vernichtung der Hamas, koste es, was es wolle, auch die Vernichtung des Gaza-Streifens. Das ist die Vollstreckung des expansiven und sehr aggressiven Zionismus, wie er bei Ben Gurion schon angelegt und dann von Wladimir Zeev Jabotinsky stets weiter in die jüdische Gesellschaft gepflanzt wurde.»
Fast alle führenden israelischen Politiker schon vor Benjamin Netanjahu, ob Itzack Shamir, Ariel Sharon oder auch Ehud Olmert, seien «Exponenten dieses aggressiven und scharfen, auf Landraub und Vertreibung angelegten Zionismus – nach dem alten Schlachtruf von Ben Gurion, den sie alle kennen: Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land!»
Schwelle zum Völkermord überschritten
Diese zionistische Vision habe schon vor der israelischen Staatsgründung 1948 zur Vertreibung der Palästinenser, der Nakba geführt, erinnerte Paech. Und: «Wer drohte, sie zu vergessen oder zu verleugnen, wurde wie Rabin ermordet.» Die radikale zionistische Ideologie habe nie vor Krieg und Gewalt zurückgeschreckt, da ihr der Sieg aufgrund der militärischen Überlegenheit immer sicher gewesen sei.
«Allerdings werden das Ausmaß und die Unbedingtheit dieser Radikalität erst jetzt in Gaza deutlich, wo die politische und militärische Führung die Schwelle zum Völkermord schon überschritten hat.»
Der Völkerrechtler belegte seine Aussagen zur Rolle Israels mit zahlreichen Quellen und Zitaten. So verwies er unter anderem auf das «Weißbuch» des israelischen Instituts für nationale Sicherheit und zionistische Strategie, das kurz nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 veröffentlicht wurde. Darin sei ein «Plan für die Umsiedlung und endgültige Eingliederung der gesamten Bevölkerung des Gaza-Streifens in Ägypten» vorgestellt worden, der auf der «einzigartigen und seltenen Gelegenheit zur Evakuierung des gesamten Gaza-Streifens basiert».
Im Mai 2024 sei in Israel ein Prospekt veröffentlicht worden, der um Investoren für den Wiederaufbau des Gaza-Streifens warb – ganz ohne Palästinenser und, «als wenn man nach Dubai versetzt wäre». Paech machte deutlich, dass solche Pläne schon älter sind, und erinnerte daran, dass Israel den Gaza-Streifen nach Abzug seiner Truppen ab 2007 vollständig blockierte.
Zionistische Vordenker hätten immer wieder davon geschrieben, dass gegen die Palästinenser Krieg geführt werden müsse. So habe der israelische Demograph Arnon Sofer von der Universität Haifa schon 2004 Pläne vorgelegt, den Gaza-Streifen zu isolieren, und sich auch mit den Folgen beschäftigt:
«Wenn 2,5 Millionen Menschen in einem abgeriegelten Gaza-Streifen leben, wird das eine menschliche Katastrophe sein. Diese Menschen werden zu noch größeren Tieren werden, als sie es heute sind (...). Wenn wir also am Leben bleiben wollen, werden wir töten, töten und töten müssen. Den ganzen Tag, jeden Tag.»
Diese prophetischen und «unmenschlichen» Worte würden nun umgesetzt, stellte der Völkerrechtler fest. Er sieht hinter dem gegenwärtigen israelischen Vernichtungskrieg auch eine politische Überlebensstrategie Netanjahus angesichts seiner zahlreichen innenpolitischen Probleme. Seine Position sei massiv angeschlagen, und eine Verständigung mit der Hamas über ein baldiges Ende des Krieges würde auch ihn für das Ende seiner politischen Immunität und dann den Anfang eines sehr peinlichen Prozesses bedeuten.
Israel als Fixpunkt der US-Außenpolitik
Paech ging ebenso auf die Rolle der USA ein, die seit Jahrzehnten die stärksten Verbündeten für Israel seien – «so wie Israel für die USA der wichtigste Pfeiler im Mittleren Osten ist». Grundlage dafür sei die strategische Position Israels im arabischen Umfeld.
«Die Dominanz im Nahen Osten ist einer der Fixpunkte US-amerikanischer Außenpolitik seit Ende des Zweiten Weltkriegs.»
Er zitierte dazu den US-Ökonomen Michael Hudson, der in einem Interview im April dieses Jahres darauf hinwies, dass der Krieg «nicht nur das Werk eines einzelnen Mannes, von Benjamin Netanjahu», sei:
«Es ist das Werk des Teams, das Präsident Biden zusammengestellt hat. Es ist das Team von Jake Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater Blinken, und dem ganzen Tiefen Staat, der ganzen Neocon-Gruppe hinter ihnen, Victoria Nuland und allen anderen. Sie alle sind selbsternannte Zionisten. Und sie haben diesen Plan für die Beherrschung des Nahen Ostens durch Amerika Jahrzehnt für Jahrzehnt durchgespielt.»
Paech betonte, die israelische Besatzungspolitik beruhe auf der gemeinsamen Strategie mit den USA, «den palästinensischen Faktor in der Region auszuschalten». Es gebe zwischen den beiden Partnern zwar über die Methoden und Praktiken Debatten – im gemeinsamen Ziel ihrer Politik seien sie sich aber einig.
Es handele sich um «einen von den USA unterstützten israelischen Krieg», bei dem Israel das Ziel verfolge, «ein Land ohne nichtjüdische Bevölkerung zu haben». Für die USA gehe es darum, dass Israel in der Region als «lokaler Koordinator» agiere, «so wie es die Arbeit mit ISIS und den ISIS-Kommandeuren koordiniert hat, um sie gegen von den Vereinigten Staaten bereitgestellte Ziele zu wenden».
Der Völkerrechtler erinnerte ebenso an die bis heute anhaltende, jahrzehntelange Unterstützung der USA für Israel, mit der auch alle völkerrechtlich verbindlichen Verurteilungen und Sanktionen der israelischen Politik blockiert wurden. In seinem Vortrag ging er im Weiteren auf die Rolle der palästinensischen Organisation Hamas ein.
Weitreichende Vorgeschichte
Wer die Vorgeschichte des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 verstehen wolle, müsse «weit in die Geschichte des Palästina-Konflikts zurückschauen». Es sei von Anfang an ein Konflikt zwischen den arabischen Bewohnern und den jüdischen Siedlern um Land und Ressourcen gewesen. Die Beziehungen zwischen beiden Seiten seien immer von Gewalt geprägt gewesen, bis heute. Die jüdischen Siedler hätten das Land immer ohne seine Bewohner in Besitz nehmen wollen und diese vertrieben.
«So ist es eine Geschichte seit Anbeginn von permanenter Gewalt durch Landraub, Besatzung, Vertreibung und auch Diskriminierung. Alle Friedenskonferenzen mussten scheitern, weil sie das Grundübel dieses Siedlerkolonialismus nicht beseitigt haben.»
Das Geschehen am 7. Oktober 2023 sei ein « fast notwendiger Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza» gewesen. Die Hamas wolle den Gaza-Streifen vollständig von der israelischen Besatzung und dem israelischen Militär befreien und einen souveränen palästinensischen Staat errichten.
Paech betonte, dass die palästinensische Organisation dem Völkerrecht nach keine «Terrororganisation» sei, wozu sie die westlichen Staaten erklärt haben, sondern eine legitime Widerstandsorganisation beziehungsweise Befreiungsbewegung. Sie habe dem Völkerrecht gemäß das Recht auf Widerstand, auch durch bewaffneten Kampf.
So hatte die UN-Generalversammlung 1970 in einer Resolution zum Selbstbestimmungsrecht die Legitimität des Kampfes zur Wiedererlangung des Rechts von Völkern auf Selbstbestimmung «durch jegliche, ihnen zur Verfügung stehende Mittel» proklamiert. Aus Sicht des Völkerrechtlers ist es unerheblich, ob einzelne Regierungen die palästinensische Organisation als «Terrororganisation» einstufen.
«Wesentlich ist, dass die Hamas die Beseitigung eines völkerrechtlichen Missstandes, nämlich der Besatzung, erkämpft, wozu sie mit dem Recht auf Selbstbestimmung auch berechtigt ist, das allmählich ein zwingendes Völker-Gewohnheitsrecht geworden ist.»
Allerdings sei von solchen Widerstandsbewegungen im bewaffneten Kampf auch das humanitäre Völkerrecht zu beachten, insbesondere die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen. Die mutmaßlichen Kriegsverbrechen am 7. Oktober durch die palästinensischen Kämpfer müssten deshalb untersucht werden.
Israels Verachtung des Völkerrechts
Paech ging außerdem auf die Rolle der internationalen Justiz, wie des Internationalen Gerichtshofs (IGH) und des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), ein. Er stellte dabei auch fest, dass Israel durch die Besatzung der palästinensischen Gebiete «seit dem Krieg 1967 eine tiefe Verachtung des geltenden Völkerrechts» gezeigt habe.
«Es war mit Südafrika das am meisten von den Institutionen der UNO verurteilte Land und hat sich auch nie darum gekümmert. Das hat immer ganz gut gepasst zum notorischen Völkerrechtsnihilismus der US-Administrationen, die das Völkerrecht der UNO-Charta durch eine sogenannte regelbasierte Ordnung ersetzen.»
Der beantragte Haftbefehl des IStGH in Den Haag gegen die Hamas-Führung, aber auch gegen den israelischen Premier Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant sei ein Zeichen, dass die internationale Justiz endlich ihre Verantwortung wahrnehme. Das gelte auch für die Klagen gegen Israel vor dem IGH, unter anderem von Südafrika, sowie die Forderungen des Gerichtshofes nach einem sofortigen Waffenstillstand.
Außerdem sei die Einschätzung, dass es sich bei dem israelischen Krieg um einen Völkermord handele, als plausibel eingestuft worden, während eine endgültige Entscheidung noch ausstehe. Paech machte aber auch das Problem deutlich, dass es keine Institution im internationalen Recht gebe, die die Resolutionen und Urteile durchsetzen könne.
Es sei «eine Illusion, zu glauben, die Justiz könnte das erreichen, was die Politik nicht kann». Sie habe keine Durchsetzungsgewalt und sei für die Durchsetzung ihrer Entscheidungen auf die Politik, genauer den UN-Sicherheitsrat, angewiesen. Und dort würden die USA bisher noch jede Verurteilung und Sanktion gegen Israel blockieren. Am Ende seines Vortrages stellte der Völkerrechtler fest:
«So brutal dieser Krieg seit dem 7. Oktober geführt wird und so sehr alle Umstände den genozidalen Charakter dieses Krieges unterstreichen, so hat er doch paradoxerweise die Bedeutung seiner derzeit einzigen Gegenkraft, der internationalen Justiz, gestärkt.»
Sie habe den engen Zirkel der um Israel gescharten Staaten, die die UNO immer aus dem Konflikt heraushalten wollten, aufgebrochen. Die aktive Einmischung zahlreicher Staaten wie Südafrika und Nicaragua habe den Druck auf Israel, aber auch auf die USA und die Bundesrepublik Deutschland stark erhöht.
«Netanjahus Vernichtungswahn wird nicht von innen, sondern nur von außen zu stoppen sein. Auch gerichtliche Verfügungen und Urteile werden ihn nicht stoppen. Aber diese Urteile und diese Verfügungen können doch das menschenrechtliche Gewissen der Freunde Israels, das sie immer so gerne vor sich hertragen, irgendwie noch aufrütteln und mobilisieren, dass sie etwas unternehmen, um diese furchtbare Situation zu verändern.»
Deshalb müsse die «Juristerei» ernst genommen und gestärkt werden, damit sie im Friedensprozess eine Rolle spielen könne.
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