Der Nihilismus führt zum Niedergang des Westens, meint der französische Anthropologe und Sozialforscher Emmanuel Todd in seinem neuesten Buch, das vor kurzem auf Deutsch erschien. In einem Interview sagte er dazu:
«Der Niedergang des Westens besteht im gegenwärtigen Stadium darin, dass die USA nicht in der Lage sind, die Waffen zu produzieren, die die Ukraine braucht, weil ihr Industrieapparat durch Freihandel und Finanzialisierung zerstört wurde und weil ihre Universitäten eher Anwälte als Ingenieure ausbilden.»
Das Interview ist in der neuesten Ausgabe 11/12-24 des zweimonatlich erscheinenden Magazins Hintergrund nachzulesen. Der französische Anthropologe, der 1976 den Untergang der Sowjetunion vorhersagte, erklärt darin seine These und seine Sichten.
Er stützt sich nach seinen Worten dabei unter anderem auf die Familienstrukturen, die zum einen die Entwicklung des Westens beförderten und zum anderen derzeit zum Hemmnis werden. Ein anderer Bezugspunkt ist für ihn die protestantische Religion des Westens, die dessen Entwicklung vorantrieb und die Todd als im Nullzustand befindlich ansieht.
Im «Nullstadium» der Religion würden «die aus dem religiösen Hintergrund ererbten Gewohnheiten der moralischen und sozialen Disziplin nicht mehr existieren», sagt er in dem Interview. Das würde die gegenwärtige Schwächung des Westens in den Bereichen Bildung, Industrie, Soziales und Militär, insbesondere in Europa und in den USA, erklären.
Zugleich entstehe daraus ein «nihilistischer Impuls»:
«Das Individuum, dem der Rahmen fehlt, das eher verängstigt als befreit ist, beginnt, die Leere, die ihm Angst macht, zu vergöttlichen: Die Zerstörung von Dingen und Menschen wird zum Ziel an sich. Vor allem die Negation der Realität wird zentral.»
In seinem Buch geht Todd auch auf die vordergründig überraschende Überlebensfähigkeit und Stärke Russlands in der vom Westen provozierten Konfrontation bis zum Krieg in der Ukraine ein. Im Hintergrund-Interview verweist er dazu auf die «Spuren des Kommunitarismus, die aus der traditionellen russischen Familie stammen» und es ermöglichen, die russische Resilienz, die Widerstandsfähigkeit Russlands gegenüber der individualistischen Atomisierung zu erklären.
Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg betont der französische Sozialforscher, dass der ukrainische und der US-amerikanische Nihilismus miteinander verschmolzen seien. Die Europäer seien von den USA in diesen Krieg hineingezogen worden, um sie zu schwächen.
«Aber man muss unterscheiden. Polen, Skandinavier und Niederländer sind begeisterte Verbündete der Angloamerikaner und sozusagen amerikanische Agenten. Die Deutschen sind ein Ziel: Deutschland von Russland zu trennen ist ein wichtiges US-amerikanisches Anliegen.»
Todd geht in dem Interview auf weitere Aspekte zu seiner These vom Niedergang des Westens ein, auch warum die USA aus seiner Sicht bereits verloren haben. Zum gleichen Thema hat auch der Religions- und Kulturwissenschaftler Hauke Ritz ein neues Buch veröffentlicht, in dem er allerdings auf eine «Neuerfindung Europas» hofft.
Darin fragt er, welche Rolle der Nord-Süd-Konflikt im aktuellen großen Umbruchszenario spielt und wieso die Friedenschance von 1989 so leichtfertig verspielt worden ist. Die notwendige Neuerfindung Europas setzt aus seiner Sicht im Kulturellen an, um letztlich auch eine politische und ökonomische Souveränität erlangen zu können.
In der aktuellen Hintergrund-Ausgabe ist ein Auszug aus dem Buch von Ritz zu finden, in dem er beschreibt, wie die USA in Westeuropa nach 1945 selbst die linke Kultur unter ihre Kontrolle brachten. Der hohe Organisationsgrad der sozialistischen und kommunistischen Parteien in Europa habe für die US-amerikanische Führung ein ernstes Problem dargestellt, dem sie unter anderem begegneten, in dem sie eine nicht-kommunistische Linke aufbauen halfen und förderten.
Das Magazin, das zweimonatlich erscheint, ist in seiner jüngsten Ausgabe dem Schwerpunktthema «Wem gehört der Mensch?» gewidmet. Dazu gehören neben dem Interview mit Todd und dem Auszug aus dem Buch von Ritz unter anderem Beiträge von Éva Péli, Markus Fiedler und Kees van der Pijl zum Transhumanismus – ein Ausdruck des westlichen Nihilismus sowie Mittel der Kontrolle über den Menschen –, von Peter Schadt zur Künstlichen Intelligenz und ihren Hintergründen, von Gabriele Gysi über die Notwendigkeit der Kunst für das Menschsein und von Peter Gärtner über den Rassismus sowie von Thomas Trares über den Homo oeconomicus. Im Editorial des Heftes heißt es:
«Heutzutage betrachten gesellschaftliche Kräfte den Menschen wie eine Ware. Multinationale Konzerne erheben Eigentumsansprüche am menschlichen Genom. Der Mensch nach Nützlichkeitsaspekten betrachtet und bewertet. Und nicht zuletzt werden inzwischen ganz offen Szenarien diskutiert, wie der Mensch optimiert werden kann.»
Außerdem gehört die Frage «Was und wer verhindert einen Kernwaffenkrieg?», auf die der Politikwissenschaftler Lutz Kleinwächter in einem Interview antwortet, zu den weiteren Themen im Heft. Mit dem früheren Bundeswehr-Luftwaffenoffizier Jürgen Rose wird die Frage diskutiert, ob das Nachdenken über den Ukraine-Krieg, seine Ursachen und sein mögliches Ende unerwünscht ist.
Der österreichische Publizist und Verleger Hannes Hofbauer beschreibt, wie der Landraub in der Ukraine im Schatten des Krieges vonstattengeht. Die Frage, was die offen gelegten Protokolle und Dokumenten aus dem Robert-Koch-Institutes zeigen und was nicht, beschäftigen den Historiker Artur Aschmoneit, der sich seit Beginn der Corona-Krise kritisch mit der damit verbundenen Politik auseinandersetzte.
Neben weiteren Beiträgen sind auf den insgesamt 84 Seiten der neuen Hintergrund-Ausgabe auch die Chronik wichtiger politischer Ereignisse der letzten beiden Monate sowie interessante Veranstaltungstermine für die kommenden Wochen zu finden. Das Heft soll ab Samstag im Zeitschriftenhandel zu kaufen sein und kann auf der Webseite des Magazins auch bestellt werden.
Nachrichtenmagazin Hintergrund Ausgabe 11/12-24 «Wem gehört der Mensch?»; 84 Seiten, 8,80 Euro, am Kiosk und im Abo
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