Der Narrativ in den westlichen Medien geht so: Die nationalkonservative PiS geht zwar als stärkste Partei aus den Wahlen hervor, die Opposition kann aber eine Koalitionsregierung bilden. Die PiS ist schlecht, weil sie die unabhängige Justiz beseitigt hat, gegen Abtreibung und LGBT ist, die Opposition ist gut.
Es ist in Wahrheit komplizierter, viel komplizierter.
Der oberste Gerichtshof hat nun dreissig Tage Zeit, die Wahlen zu erwahren, das heisst zu bestätigen, ob sie rechtmässig abgelaufen sind. Inzwischen hat Präsident Andrzej Duda mit Konsultationen aller Parteichefs begonnen. Zuerst dürfte er dem bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki den Auftrag zur Bildung einer Regierung anvertrauen.
Wenn dieser damit scheitert, wovon auszugehen ist, wird Oppositionsführer Donald Tusk, der Chef der liberalen Bürgerplattform, versuchen, ein Kabinett zu bilden. Tusk war vor den beiden Amtsperioden der PiS Ministerpräsident und später in Brüssel Präsident des Europäischen Rates.
Duda steht der PiS nahe und bleibt noch zwei Jahre im Amt. Sollte es der Opposition gelingen, eine Regierung zu bilden, sprechen wir von einer «cohabitation», wie wir sie aus Frankreich kennen. Präsident und Regierung kommen aus dem gegensätzlichen Lager. Das ist in Polen unbeliebt.
Ist das Budget für 2024 nicht rechtzeitig unter Dach und Fach, müssen das Parlament, der Sejm, wieder aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben werden. Theoretisch kann das Budget auch unter einer geschäftsführenden Regierung verabschiedet werden. Wenn aber parallel Verhandlungen zur Regierungsbildung laufen, wird der Prozess anfällig für Störmanöver.
Was in der Diskussion untergeht, ist die Tatsache, dass es sich bei der Opposition um einen heterogenen Block handelt. Bei Koalitionsverhandlungen müssen diverse Interessen berücksichtigt und viele Leute mit Posten versorgt werden. Auch innerhalb der Parteien gibt es Rivalitäten.
Zudem sind sich die potenziellen Koalitionsparteien bei Themen wie Abtreibung, Trennung von Kirche und Staat und Registrierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften überhaupt nicht einig.
Die Bauernpartei PSL, eine ehemalige Blockpartei, hat zum Beispiel hier grosse Differenzen zu den Liberalen von Tusk. Und ohne die PSL ist eine Regierungsbildung kaum möglich. Entsprechend selbstsicher tritt diese auf. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass die Bauernpartei plötzlich umschwenkt und mit der PiS eine Regierung bildet, wenn das Angebot attraktiv genug ist.
Selbst wenn eine Regierungsbildung durch Tusk gelänge, wäre es alles andere als sicher, dass dieser nun die westeuropäische Mainstream-Politik in Polen implementieren könnte, so wie das westliche Medien implizit suggerieren. Das Gesprächsklima zwischen Brüssel und Warschau würde zwar besser, aber zum Beispiel bei der Migrationspolitik könnte auch ein Regierungschef Tusk keine andere Strategie verfolgen als die bisherige PiS-Regierung. In dieser Frage sind sich in Polen alle Parteien einig.
Möglich ist auch, dass PiS-Chef Kaczyński, ein gewiefter Stratege und Taktiker, eine heterogene Koalition unter Tusk will, die sich dann zerfleischt und der PiS wieder freie Bahn verschafft.
Bis zur Regierungsbildung in Warschau wird also noch viel Wasser die Weichsel hinunterfliessen.
Welche Regierungsfarbe wünschbar ist, erscheint bei näherer Betrachtung auch nicht klar.
Der Danziger Tusk hat zwar einen guten Ruf und spricht Deutsch besser als Englisch, ist aber einer der ältesten europäischen Spitzenpolitiker. Er hat schon einmal acht Jahre regiert. In Bezug auf Zukunftsthemen hat er zudem keinen Plan.
2014, als sich die Wahlniederlage im Jahr darauf abzeichnete, liess er seine Partei im Stich und übernahm den Prestigeposten in Brüssel.
In seiner Amtszeit integrierte er die nach Kapitaldeckungsverfahren organisierten Pensionskassen (nach Schweizer Vorbild) in das umlagefinanzierte staatliche Rentensystem und enteignete so die Sparer über Nacht.
Die PiS-Regierung hat sicher gewisse Erfolge aufzuweisen. In der Sozialpolitik gelang es, die geradezu manchesterliberale Politik Tusks etwas zu korrigieren. Aussenpolitisch hat die PiS die Trumpfkarte, die sich aus der geographischen Lage des Landes und seiner gestiegenen Bedeutung während des Ukrainekrieges ergibt, gezielt gespielt.
Allerdings gab es viele Schnitzer und Skandale und die Korruption nahm zu.
Es wurden auch einige Wahlversprechen nicht realisiert. Die Justizreform wurde tatsächlich unbefriedigend umgesetzt, was immer wieder zu Reibereien mit Brüssel führt.
In gewissen Bereichen wie beim Abtreibungsrecht war die Politik der PiS sehr konservativ. Städtische und säkulare Schichten, von denen es in Polen mehr und mehr gibt, identifizierten sich kaum mehr mit den propagierten konservativen und Werten.
Erschwerend kommt hinzu, dass das Land Polen von seiner politischen Kultur her ambitiös ist. Es will auf der politischen Karte Europas eine Rolle spielen. Das Land fürchtet sich seit dem 18. Jahrhundert davor, im Rahmen von Konflikten zwischen Deutschland und Russland unter die Räder zu kommen. Und in der Tat wird es von Deutschland auch heute noch nicht immer ernst genommen.
Auf die neue polnische Regierung warten also anspruchsvolle Aufgaben, wie immer sie zusammengesetzt ist.