Es ist 1. September. Als Kind lernte ich in der DDR, dass das der «Weltfriedenstag» ist. Damit sollte an den Beginn des Zweiten Weltkrieges durch den deutschen Überfall auf Polen erinnert werden.
Das Land, in dem der Tag der «Weltfriedenstag» war, ist ohne Krieg verschwunden. In der seit fast 33 Jahren grösseren Bundesrepublik wird der 1. September als «Antikriegstag» bezeichnet. Doch wer erinnert sich noch daran? Gerade angesichts der neuen deutschen Kriegsbegeisterung, für die «Kriegsmüdigkeit» etwas Verwerfliches darstellt.
Es ist nicht friedlicher auf der Welt geworden, seitdem im Kalender der «Weltfriedenstag» nicht mehr zu finden ist. Seitdem die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten abgeschafft wurde, wurden in Europa und anderswo neue Grenzen errichtet. Neue Mauern wurden und werden hochgezogen, seit die Mauer in Berlin fiel.
Verantwortung dafür tragen jene, die einst eifrig daran arbeiteten, den «Eisernen Vorhang» abzuschaffen. Auch weil er ihnen die Möglichkeit nahm, auf einem Sechstel der Erdoberfläche ihre Interessen durchzusetzen. Um sie heute leichter durchsetzen zu können, unterstützen sie jene, die sich abschotten von denen, mit denen sie in einem Land lebten. Statt das Miteinander zu bewahren und zu schützen, wird das Gegeneinander angefeuert.
Die verkündeten Gründe dafür sind austauschbar. Mal muss die Religion dafür herhalten, mal die Hautfarbe, mal irgendwelche Vorurteile und Mythen über die Anderen. Manchmal sind es auch einfach handfeste wirtschaftliche Interessen, weil die einen angeblich nur arbeiten und die anderen nur schmarotzen.
Am 5. August 2023 in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Der eigentliche Grund ist: So geteilt lässt sich die Welt besser beherrschen, lassen sich die Interessen einiger Weniger besser gegenüber den Vielen durchsetzen. Dafür wird auch wieder Krieg geführt. Wer den führenden westlichen Staaten nicht freiwillig gibt, was diese beanspruchen, der wird dazu gezwungen. Manchmal geschieht das mit Hilfe eigener Soldaten und Waffen. Oft geschieht das mit Hilfe von Söldnern verschiedenster Herkunft, denen Waffen geliefert werden.
Menschen, die im Frieden keine Perspektive haben und hoffen, mit Morden und Brandschatzen eine solche zu bekommen, gibt es viele. Heute geschieht das auch mit Hilfe eines ganzen Landes: Bis zum letzten Ukrainer soll Russland ruiniert werden, nachdem es über viele Jahre lang mit dem Ziel eines Krieges provoziert wurde und all seine Friedensvorschläge ignoriert wurden.
Wer erinnert an die Opfer der Kriege des Westens im Namen von Freiheit und Menschenrechten und gegen den Terrorismus? Sie tauchen nicht mal in den offiziellen Statistiken zu den Kriegen gegen Jugoslawien, in Afghanistan, gegen den Irak, gegen Libyen, gegen Syrien und anderswo auf. Sie werden nicht gezählt, weil sie nichts zählen, wenn die herrschenden Kreise der führenden westlichen Staaten Kriege für ihre Interessen führen lassen.
Dabei ist egal, wer den Landsknecht abgibt, ob der Bürger des eigenen Landes in Uniform, ein Heimatloser als Söldner, ein bezahlter Warlord aus dem Land, das unter Kontrolle gebracht wird, ein religiös Verblendeter, der auf der Erde nichts, dafür im Paradies angeblich viel zu gewinnen hat, wenn er als vermeintlicher Märtyrer dort ankommt, oder ein Schauspieler, der als Präsident sein Land verkauft und den Kriegsprofiteuren ausliefert.
Gibt es eine Aufzählung all der Toten in Folge der Kriege, für welche die USA und die anderen führenden westlichen Staaten seit 1945 verantwortlich sind? Damit meine ich auch solche Kriege, die sie führen lassen oder anfeuern, weil es um Rohstoffe geht, wie in Sudan zum Beispiel. Mir ist eine solche Aufstellung nicht bekannt. Anscheinend interessiert das auch niemand.
Ich weiss, dass jeder Krieg oder bewaffnete Konflikt komplexere konkrete Ursachen hat. Wir dürfen uns den Blick auf die Zusammenhänge im Hintergrund nicht verstellen lassen durch kriegsbesoffene Regierungen und die mit ihnen verbundenen Medien. Diese Zusammenhänge sind weder neu noch überraschend.
Einen grundlegenden davon hat der 1914 ermordete französische Friedensaktivist Jean Jaures so beschrieben: «Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen». Dass das noch immer gilt, dafür zahlen weiterhin viel zu viele Menschen mit ihrem Leben, ob in Uniform oder als zivile Opfer, auch in der Ukraine. So lange das so ist und bleibt, bleibt die Forderung von Bertha von Suttner aus dem Jahr 1914, kurz vor Ausbruch des mörderischen Ersten Weltkrieges, gültig: Die Waffen nieder!
Käthe Kollwitz forderte zehn Jahre später mit einem Plakat: Nie wieder Krieg! Dem folgte der noch mörderischere 2. Weltkrieg, verbunden mit deutscher Verantwortung für aber Millionen Tote. Die einzig richtige Schlussfolgerung daraus war: Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus! Aber selbst diese scheint inzwischen in den Geschichtsbüchern zu vergilben und zu verstauben. Sie soll vergessen werden …
Wer heute fordert «Die Waffen nieder!» wird beschimpft, beleidigt, diffamiert. Wer heute an das Friedensgebot des Grundgesetzes erinnert und eine deutsche Friedensdiplomatie statt Waffenlieferungen fordert, setzt sich dem Vorwurf der «Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates» aus. Soweit ist es gekommen am 1. September 2023. Und es sieht nicht so aus, dass sich in der näheren Zukunft daran etwas ändert.
Denn weiterhin gilt: «Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen». Erst wenn dieser grundlegende Zusammenhang erkannt und die Ursache dafür beseitigt wurde, dann wird der 1. September ein tatsächlicher «Weltfriedenstag» sein können.
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