Jacques Pilet, profilierter Westschweizer Journalist französischer Sprache, analysiert in einem neuen Essay insbesondere die Entwicklungen und Konflikte, die sich an Westschweizer Universitäten und in den Medien abspielen, seit sich auch dort der Wokismus verbreitet.
In einem einführenden Abschnitt, der eher akademisch geprägt ist, beginnt Pilet mit den Überlegungen von Jonas Follonier, dem Chefredakteur des Regard Libre, ein 2014 in Sitten gegründetes Westschweizer Medium. Zunächst wurde sie online veröffentlicht, seit 2015 erscheint sie monatlich in Papierform und seit 2021 am Kiosk). Follonier reflektiert über die zunehmende Verbreitung einer unklaren Ideologie, die sich in den letzten Jahren vor allem in Schulen, Universitäten und Medien wie der RTS etabliert hat (RTS sind die französischsprachigen Programme der staatlichen Radio- und Fernsehanstalt SRG).
Der Wokismus, einst als fortschrittliche Bewegung angesehen, stößt mittlerweile auf wachsende Kritik. Besonders besorgniserregend ist die Beobachtung, dass die lautesten Verfechter dieser Ideologie oft unwillig sind, sich einer offenen Debatte zu stellen. In akademischen Diskursen, etwa in Genf oder Neuchâtel, wird häufig eine aggressive Atmosphäre geschaffen, in der Meinungen, die von der vorherrschenden Linie abweichen, nicht nur angefeindet, sondern auch aktiv zum Schweigen gebracht werden, schreibt Follonier.
Der Begriff «woke», der aus den USA stammt, steht ursprünglich für das Bewusstsein über Rassendiskriminierung. Er hat sich jedoch ausgeweitet und umfasst inzwischen auch die Sichtweise auf sexuelle Minderheiten, transgender Identitäten und die Gleichstellung der Geschlechter. Frauen werden oft als Opfer von Diskriminierung und Gewalt dargestellt, ihre Erfahrungen werden als systematische Unterdrückung interpretiert. Diese Probleme sind unbestreitbar ernst und verlangen Aufmerksamkeit, bemerkt Pilet. Doch wenn solche Themen in eine besessene und verallgemeinernde Betrachtungsweise münden, entsteht ein verzerrtes Bild der Realität. Es besteht die Gefahr, dass auch Kritiker auf eine vereinfachende Sichtweise zurückgreifen.
Pilet bringt mehrere aufsehenerregende Beispiele, die die Absurditäten des Wokismus verdeutlichen. So berichtet er von der RTS, die ihre Unterstützung für Filmproduzenten an die Erfüllung eines umfangreichen Katalogs von Anforderungen knüpft. Diese Anforderungen betreffen nicht nur die Inhalte der Filme, sondern auch die Geschlechterverteilung in technischen Teams und unter den Darstellern. Dadurch wird die kreative Freiheit stark eingeschränkt. Man könnte sich fragen, ob Filmemacher wie Alain Tanner oder Claude Soutter in der heutigen moralisch aufgeladenen Medienlandschaft überhaupt eine Chance hätten. Zudem wird ein «inklusives» Sprachkonzept gefordert, das die Komplexität der französischen Sprache zusätzlich erschwert und insbesondere für Schüler eine große Herausforderung darstellt.
Ein weiterer kritischer Punkt, den Pilet anspricht, ist die implizite Feindseligkeit gegenüber traditionellen, westlichen Werten, die als inhärent patriarchalisch und neokolonialistisch angesehen werden. In vielen Ländern, insbesondere in Asien und Afrika, wird diese Denkweise jedoch als Ausdruck des kulturellen Niedergangs des Westens wahrgenommen. Ein chinesischer Student, der im Französischunterricht mit den Werken von Molière oder Racine konfrontiert wird, könnte mit Verwunderung feststellen, dass selbst deren Äußerungen in der Westschweiz unter dem Verdacht des Sexismus stehen.
Pilet schließt mit einer eindringlichen Warnung: Wir sollten uns nicht in einem selbstbezogenen Diskurs verlieren, der sich um individuelle Empfindungen von Unterdrückung dreht. Stattdessen sollten wir die Augen für die tatsächliche Politik öffnen, die zahlreiche Möglichkeiten zur Verbesserung der menschlichen Bedingungen bietet. Es ist an der Zeit, die Debatten über Wokismus kritisch zu hinterfragen und uns auf substanzielle gesellschaftliche Veränderungen zu konzentrieren.
Kommentare