«Mädchen können es heute nie richtig machen», das ist der Titel eines Interviews mit der finnischen Psychiaterin Riittakerttu Kaltiala, das die Journalistin Michèle Binswanger für die Tamedia-Plattform geführt hat.
Vor etwa zehn Jahren präsentierten niederländische Forscher das Dutch-Protocol, einen neuen Behandlungsansatz für junge Menschen, die sich von Kind an im falschen Körper fühlten. Der Ansatz schlug vor, die Pubertät in einer frühen Phase zu stoppen, um später eine Anpassung an das gefühlte Geschlecht zu erleichtern. Dieses Modell wurde enthusiastisch aufgenommen und führte zu einem Anstieg von Jugendlichen, die glauben, im falschen Körper geboren zu sein.
Die steigende Aufmerksamkeit für das Thema und die Lobbyarbeit von Aktivisten führten zu einem politischen Druck, die Rechte von Transmenschen zu stärken. Eine breite mediale Diskussion machte das Thema prominent und weckte bei vielen Jugendlichen die Hoffnung, dass die Herausforderungen der Adoleszenz in der kritischen Beschäftigung mit dem eigenen Geschlecht liegen könnten.
Riittakerttu Kaltiala, Chefin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am finnischen Universitätsspital Tampere, war an der Einführung von Gender-Identitäts-Programmen beteiligt. Sie äusserte im Interview Bedenken in Bezug auf die unkritische Übernahme des Dutch-Protocols und betont, dass die Ergebnisse unter strengen Bedingungen hätten überprüft werden sollen.
Kaltiala merkte zudem an, dass viele Patienten, die ihre Klinik aufsuchten, erst in der Adoleszenz Geschlechtsdysphorie entwickelten. Sie hatten oft eine Vorgeschichte von psychischen Problemen wie Autismus, Zwangsstörungen oder Essstörungen. Die medizinischen Interventionen gemäss Dutch-Protocol führten denn auch nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der psychischen Gesundheit. Kaltiala vermutet deshalb, dass Geschlechtsdysphorie nicht immer die ursächliche Problematik ist, sondern sich im Rahmen anderer psychischer Probleme entwickelt. Die Annahme, dass die Geschlechtsangleichung auch die anderen Probleme beheben würde, sei zu optimistisch.
Kaltiala fiel zudem auf, dass heute fast drei Viertel derjenigen, die ihr Geschlecht wechseln wollen, Mädchen sind. Dies erklärt sie damit, dass Mädchen generell stärker von kulturellen Phänomenen beeinflusst werden und unter verschiedenen gesellschaftlichen Erwartungen leiden. Die heutige Kultur setze junge Frauen unter Druck, da sie Schwierigkeiten hätten, den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden. Mädchen könnten es scheinbar nie richtig machen, egal ob sie als «girly» oder nicht feminin gelten.
Die Trans-Identität könne gemäss Kaltiala für Mädchen auch ein Fluchtweg vor der zunehmenden Sexualisierung in der Pubertät sein. Die Kultur sei sehr sexualisiert, und viele junge Frauen fühlten sich überfordert, diesem Druck gerecht zu werden.
Es gibt Schulen, die sich von Trans-Aktivisten beraten lassen und Schülern die soziale Transition ohne elterliche Information erlauben. Kaltiala hält dies für inakzeptabel und betont, dass Schulen dies nicht eigenständig organisieren sollten, sondern in Zusammenarbeit mit den Eltern. Die Idee, Jugendliche vor ihrem familiären Umfeld schützen zu wollen, weil sie dort ihre wahre Identität verbergen müssen, bezeichnet die Psychiaterin folgerichtig als anmassend. Kaltiala betont, dass Eltern meist das Beste für ihr Kind wollen und die Rahmenbedingungen so gestaltet werden sollten, dass ein Rückzug zum biologischen Geschlecht nicht stigmatisiert wird.
In der Adoleszenz spielen kulturelle Einflüsse und die Suche nach der eigenen Identität eine wichtige Rolle. Einige Jugendliche könnten von sozialen Einflüssen beeinflusst werden, was dazu führt, dass sie mehr aufgrund dieser Einflüsse und weniger aufgrund eines inneren Antriebs medizinische Interventionen fordern, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
Insgesamt warnt Kaltiala vor einer unkritischen Sicht der medizinischen Behandlung von Geschlechtsdysphorie. Sie betont hingegen die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der individuellen Situationen.
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