Warum das russische Establishment Donald Trump misstraut, erklärt der britische Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte Anatol Lieven in einem aktuellen Beitrag. Im Westen werde vergessen, dass die Trump-Administration und nicht die von Barack Obama oder Joseph Biden 2017 mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine begann.
Lieven, der am US-amerikanischen Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington arbeitet, schreibt im Online-Magazin UnHerd:
«Trump erlaubte auch dem US-Geheimdienst, die Präsenz in der Ukraine auszubauen, was eine wichtige Rolle dabei spielte, den Sieg Russlands in den ersten Monaten des Jahres 2022 zu verhindern.»
Der wiedergewählte US-Präsident habe in seiner ersten Amtszeit zwar höflich über seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin gesprochen, aber «wenig unternommen, um die Beziehungen zu Russland zu verbessern».
Nach Trumps Wahlsieg in dieser Woche habe das russische Außenministerium erklärt, dass es sich «keine Illusionen» über ihn mache. Es gehe davon aus, dass die «herrschende politische Elite Amerikas an antirussischen Prinzipien und der Politik der ‹Eindämmung Moskaus› festhalte, unabhängig davon, welche Partei an der Macht sei».
Putin habe dagegen «eher wohlwollend» auf Trumps «Wunsch, die Beziehungen zu Russland wiederherzustellen und zur Beendigung der Ukraine-Krise beizutragen», reagiert. Lieven führt das darauf zurück, dass der russische Präsident gute Beziehungen zu seinem US-amerikanischen Amtskollegen aufrechterhalten muss.
Bei den Verhandlungen mit der Trump-Regierung zur Beendigung des Krieges in der Ukraine habe der Kreml nach wie vor eine große Befürchtung, schreibt er. Mitglieder des russischen Establishments, mit denen er in diesem Sommer sprach, würden eine Wiederholung von Trumps berüchtigter Initiative von 2020 rechnen, mit Nordkoreas Staatschef Kim Jong Un ein Abkommen auszuhandeln.
Trump habe damals diese «Übung in persönlicher Diplomatie ohne Vorbereitung oder Verständnis für die andere Seite – oder scheinbar für seine eigenen Ziele» gestartet. Nach dem Scheitern der Gespräche habe Trump wütend die Beziehungen der USA zu Nordkorea noch weiter verschlechtert.
Moskau befürchtet aus Sicht des Politikwissenschaftlers, dass Trump sein Friedensangebot wirklich für großzügig und realisierbar hält, es «aber nicht einmal die minimalen russischen Bedingungen erfüllt». Und dass Trump, falls Putin es ablehnt, sich gewaltsam gegen Russland wenden könne.
«Im Kreml herrscht auch die Befürchtung, dass Gegner eines Abkommens im Außenministerium Trump absichtlich so in die Falle locken könnten, dass er scheitert, und dass das unmittelbare Team des designierten Präsidenten dies nicht kommen sehen wird.»
Dabei sei noch nicht einmal das ukrainische Establishment berücksichtigt, das sich einem Friedenskompromiss wahrscheinlich erbittert widersetzen wird. Berichten zufolge sind Trumps eigene Berater in der Ukrainefrage zutiefst gespalten, wie Lieven schreibt.
Er verweist auf die Aussage eines ehemaligen Trump-Mitarbeiters, es wisse «jeder – egal wie hochrangig er in Trumps Umfeld ist –, der behauptet, eine andere Meinung zu haben oder seine Pläne für die Ukraine besser zu kennen, einfach nicht, wovon er oder sie spricht.» Sie würden außerdem nicht verstehen, dass der wiedergewählte US-Präsident seine eigenen Entscheidungen in Fragen der nationalen Sicherheit trifft, «oft spontan, insbesondere bei einem so zentralen Thema wie diesem».
Lieven stellt klar: Um eine Chance auf Erfolg zu haben, müssten formellen Verhandlungen daher vorbereitende Gespräche vorausgehen, vorzugsweise im Geheimen. Jede Seite kann dann herausfinden, welche Bedingungen der anderen grundlegend und nicht verhandelbar sind und bei welchen ein Kompromiss möglich ist.
Es sei noch nicht bekannt, wen Trump als Außenminister und nationalen Sicherheitsberater ausgewählt hat und welche Haltung sie gegenüber Russland und der Ukraine einnehmen werden. Allerdings habe «die schiere militärische Realität» die meisten Mitglieder seines Teams davon überzeugt, dass eine Rückeroberung des gesamten verlorenen Territoriums durch die Ukraine unmöglich sei.
Bryan Lanza, einer der Berater für die Trump-Kampagne 2024, habe diese Woche der BBC gesagt:
«Wenn Präsident Selenskyj an den Verhandlungstisch kommt und sagt ‹Nun, wir können nur Frieden haben, wenn wir die Krim haben›, zeigt er uns, dass er es nicht ernst meint [...] Die Krim ist verloren.»
Lanza habe hinzugefügt, dass der Plan der USA «keine Vision für einen Sieg, sondern eine Vision für Frieden» sei.
Das Moskauer Establishment – und laut Meinungsumfragen auch die Mehrheit der russischen Öffentlichkeit – lehne jedoch einen Rückzug von der Krim ebenso ab wie von jedem Gebiet, das Russland in den fünf ukrainischen Provinzen hält. Putin habe gefordert, dass die Ukraine sich aus den Gebieten zurückzieht, die sie noch in diesen Provinzen hält, «aber dies ist genauso unmöglich wie die Forderung Kiews, dass Russland sich aus allen Gebieten zurückzieht, die es in der Ukraine besetzt hält».
Diese dürften daher nicht als absolute Bedingungen, sondern als Ausgangspositionen für Verhandlungen verstanden werden, meint Lieven dazu. Er hält es für wahrscheinlich, dass ein Waffenstillstand entlang der tatsächlich existierenden Kampflinie – jedoch ohne formelle Anerkennung der russischen Annexionen – ein zentraler Bestandteil jedes Vorschlags von Trump sein wird.
Putin beharre darauf und sehe als unverhandelbar an, dass die Ukraine einen Neutralitätsvertrag unterzeichnet und eine NATO-Mitgliedschaft kategorisch ausgeschlossen wird. Das könnte aus Sicht des Politikwissenschaftlers aber «dennoch Gegenstand eines Kompromisses» sein.
«Russland könnte ein langes Moratorium für den Antrag der Ukraine auf NATO-Mitgliedschaft akzeptieren – beispielsweise 20 Jahre, wie es Berichten zufolge von einigen Mitgliedern des Trump-Teams vorgeschlagen wurde –, aber diese Frage kann nur in Gesprächen geklärt werden.»
Das wurde aber schon von russischen Vertretern abgelehnt. Die Frage bleibt laut Lieven, was in den 73 Tagen bis zu Trumps Amtsantritt am 20. Januar 2025 geschehen wird. Biden beschleunige bereits die Bereitstellung umfangreicher Hilfsgelder für die Ukraine, um die USA am Verhandlungstisch zu stärken, so Lieven.
Das US-Kriegsministerium, das Pentagon, erlaube außerdem erstmals offiziell Vertragspartnern des US-Militärs, US-amerikanische Waffen in der Ukraine zu reparieren und zu warten. Es werde zudem befürchtet, «dass die Biden-Regierung noch viel weiter gehen und eine drastische Eskalation einleiten wird, um Gespräche präventiv zu verhindern».
Lieven hält es ebenso für möglich, dass die russischen Truppen noch versuchen, so viel Boden wie möglich zu gewinnen, bevor Trump sein Amt antritt. Zumindest würden sie die ukrainischen Truppen aus der russischen Provinz Kursk vertreiben. Er schätzt ein:
«In den nächsten Wochen könnte es daher zu einer großen russischen Offensive kommen, deren Ausgang sich erheblich auf die anschließenden Friedensgespräche auswirken könnte.»