Europa scheint zu zögern, während die Welt auf eine mögliche Lösung des Ukraine-Konflikts wartet. Die schnelle Gangart von Donald Trump hat viele politische Strukturen und Denkmuster durcheinandergeworfen, nicht nur in den USA, sondern auch auf dem alten Kontinent. Die europäische Unruhe über die geopolitischen Veränderungen, insbesondere den Prozess der möglichen Friedensverhandlungen zwischen Russland und den USA, lässt viele an der Notwendigkeit eines Friedens zweifeln. Doch könnte der momentane Prozess eine echte Chance für die Stabilität Europas bieten, wenn es die Angst vor einem möglichen Frieden überwindet. Das schreibt der prominente und erfahrene Westschweizer Journalist Jacques Pilet auf der Plattform Bon pour la tête (in französischer Sprache).
Die Vorstellung, dass die USA und Russland den Krieg in der Ukraine ohne die aktive Beteiligung Europas und der Ukrainer selbst beenden könnten, sorgt für Empörung. Doch wie sollen die Alternativen aussehen? fragt Pilet. Einige Kriegsbefürworter drängen darauf, den Konflikt fortzusetzen, obwohl er mittlerweile jede Partei zu ermüden scheint und sowohl menschliche als auch materielle Kosten schier unermesslichen Ausmaßes verursacht. Die Ukraine ist ausgeblutet: Ihre Bevölkerung ist von 45,4 Millionen im Jahr 2014 auf 37,3 Millionen gefallen. Dieser dramatische Rückgang ist das Resultat von Emigration, niedrigen Geburtenraten und vor allem zahllosen Verlusten auf dem Schlachtfeld. Der Wunsch der meisten Ukrainer nach einem Ende des Konflikts ist unmissverständlich. Selbst wenn dies bedeutet, auf Gebietsansprüche wie die Krim oder den Donbass zu verzichten, sind viele bereit, diesen Schritt zu tun, um dem Horror ein Ende zu setzen, meint Pilet.
Doch ein Ende des Krieges bedeutet nicht das Ende der Herausforderungen. Die Ukraine ist zerrissen, ihre verschiedenen historischen und politischen Strömungen stehen sich in scharfem Gegensatz gegenüber. Der ultranationalistische Teil der Westukraine, besonders aus der einstmals österreichisch und polnisch geprägten Region Galizien, könnte sich weiterhin gegen den Frieden stellen. Noch gravierender jedoch ist die schwierige Lage in der Politik, in der Demokratie durch Korruption und ein unregierbares Machtgefüge ersetzt wurde. Das Fehlen von echten Wahlen und einer unabhängigen Presse unter Zelenskyj hat das Vertrauen der Bevölkerung schwer erschüttert, schreibt Pilet.
Neben der politischen Zerrissenheit steht die dringende Aufgabe, das Land nach Jahren der Zerstörung wieder aufzubauen. Aber wie kann dies geschehen, ohne die wiederkehrenden Schatten der Korruption und des Machtmissbrauchs? Die milliardenschweren Hilfen aus dem Westen erreichen häufig nicht die vorgesehenen Empfänger, und wer wird sich um diese gewaltige Verschwendung kümmern? Der Wiederaufbau der Infrastruktur, die Minenräumung und die Kontamination von landwirtschaftlichen Flächen machen die Wiederbelebung der Wirtschaft zu einer fast unvorstellbaren Aufgabe.
Europa steht nun vor einer Entscheidung: Entweder es ignoriert diese Herausforderung und überlässt sie den USA, oder es nimmt seine Verantwortung ernst und beteiligt sich aktiv am Wiederaufbau und an der langfristigen Stabilität der Ukraine. Der Vorschlag, europäische Truppen in die Ukraine zu schicken, wird von einigen lautstark gefordert, doch diese Idee wird angesichts der langen Schatten der Vergangenheit von den Nachbarländern wie Deutschland und Polen nüchtern betrachtet. Der Beitrag Europas könnte jedoch darin bestehen, als Vermittler zu agieren, mit einer stärker koordinierten diplomatischen Strategie.
Ein Hoffnungsschimmer könnte die Rolle der Schweiz als neutraler Vermittler sein. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der auch Russland und die USA angehören, wurde in den letzten Jahren in ihrer Bedeutung beschnitten, würde aber eine Plattform bieten, auf der langfristige Friedenslösungen entwickelt werden könnten. Die Schweiz übernimmt 2026 die Präsidentschaft dieser Organisation und kann in dieser Funktion eine wertvolle Rolle im Friedensprozess spielen und so aus dem Fahrwasser der NATO heraustreten, in das sie in den letzten Jahren geraten ist. Doch die Herausforderung, die europäische Friedenspolitik zu koordinieren und einen soliden Rahmen für zukünftige Vereinbarungen zu schaffen, bleibt enorm.
Ein weiteres zentrales Thema sind die kriegerischen Tendenzen in Europa. Diese entstehen aus einer Mischung aus Emotionen, moralischen Urteilen und simplifiziertem Gut-Böse-Denken. Besonders nach Trumps Initiative zur Ukraine fühlen sich viele europäische Politiker in die Enge getrieben, was sich zum Beispiel in der Rhetorik von Bundeskanzler Scholz zeigt. Doch dieser vereinfachte Blick auf die Realität wird der Komplexität der geopolitischen Lage nicht gerecht.
Europa muss sich dringend seiner eigenen Stärken bewusst werden. Trotz der momentanen wirtschaftlichen Herausforderungen ist die europäische Wirtschaft nicht in einem desolaten Zustand. Länder wie Italien, Spanien und Polen zeigen Dynamik, und auch die wirtschaftliche Kraft der großen Staaten, besonders Frankreich und Deutschland, bleibt beträchtlich. Die Zukunft könnte in einer engen Zusammenarbeit innerhalb Europas liegen.
Letztlich muss Europa lernen, sich von der ständigen Angst vor Krieg und Konflikt zu befreien und den Weg des Dialogs und des Friedens zu suchen. Die Diskussion um die europäische Sicherheitsarchitektur, die gestern noch abgelehnt wurde, wird heute lauter und dringlicher. Ein militärisches Wettrüsten ist kein Weg nach vorn. Europa muss vielmehr seine Verantwortung übernehmen und zu einem wichtigen Akteur in der Friedenssicherung werden, bilanziert Pilet.
Insgesamt zeigt sich gemäß Pilet: Der Weg zu einem echten Frieden in der Ukraine ist beschwerlich, aber keineswegs unmöglich. Europa hat die Chance, in dieser schwierigen Zeit zu einer stabilisierenden Kraft zu werden – wenn es seine Ängste überwindet und endlich die Verantwortung übernimmt.