Demokratie sei vielerorts nur noch ein Etikett, das zunehmend von innen ausgehöhlt werde – so die Einschätzung europäischer Politbeobachter, die sich besorgt über die Entwicklungen in mehreren Staaten äußerten. Insbesondere in Frankreich, Deutschland und im Osten Europas würden sich Tendenzen zeigen, die das Vertrauen in rechtsstaatliche Prozesse und demokratische Prinzipien erschüttern könnten. Das schrieb der renommierte Westschweizer Journalist Jacques Pilet am Wochenende auf der Plattform Bon pour la tête (hier in französischer Sprache).
In Frankreich etwa habe die Verurteilung der rechten Politikerin Marine Le Pen eine breite gesellschaftliche und politische Debatte ausgelöst. Die Justiz wirft ihr vor, Angestellte des EU-Parlaments für parteiinterne Zwecke eingesetzt zu haben – ein Verstoß, den auch andere Parteien begangen hätten. Zwar bestreite niemand die rechtliche Relevanz des Falls, doch viele Stimmen im In- und Ausland hielten die Strafe – vier Jahre Haft, davon zwei mit elektronischer Überwachung, und ein fünfjähriges Wahlverbot – für unverhältnismäßig.
Kritiker verwiesen dabei auf die politische Dimension des Urteils. Die Vorsitzende Richterin gelte als politisch engagiert und habe in der Vergangenheit deutlich Position gegen Le Pens Partei bezogen. Es stelle sich die Frage, ob eine solche Person imstande sei, völlig unparteiisch zu urteilen. Die Formulierung im Urteil, wonach ein «irreparabler Schaden für die öffentliche Ordnung» zu befürchten sei, falls Le Pen kandidiere, lasse eine politische Motivation erkennen, so einige Rechtsexperten. Das Berufungsverfahren könne die Strafe noch abmildern – sollte Le Pen wieder zur Wahl antreten dürfen, könnte ihr das Urteil letztlich sogar mehr Nutzen als Schaden gebracht haben, schrieb Pilet.
Auch in Rumänien habe sich zuletzt eine Entwicklung abgezeichnet, die Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz nährt. Dort sei dem aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten Calin Georgescu die Kandidatur nachträglich untersagt worden – auf Grundlage von Vorwürfen russischer Einflussnahme über soziale Medien und unklarer Finanzpraktiken, Vorwürfe, die sich nota bene bis heute nicht erhärten ließen. Eine tatsächliche Verurteilung liege ebenfalls nicht vor. In der Bevölkerung habe das Urteil für Unverständnis und Frust gesorgt – nicht nur bei seinen Anhängern, sondern auch bei jenen, die sich generell um die demokratische Kultur des Landes sorgten.
In Deutschland wiederum sei nach der Bundestagswahl ein anderer Aspekt demokratischer Glaubwürdigkeit in den Fokus gerückt. Die Union unter Friedrich Merz habe im Wahlkampf Steuererleichterungen und Haushaltsdisziplin versprochen – um nach der Wahl im Zuge von Koalitionsverhandlungen massive neue Schulden und Steuererhöhungen zu akzeptieren. Viele Wählerinnen und Wähler fühlten sich laut Medienberichten getäuscht.
Zugleich gebe es Bedenken hinsichtlich der Pressefreiheit. Der CDU-Politiker Philipp Amthor habe sich dafür eingesetzt, das Informationsfreiheitsgesetz auf Bundesebene abzuschaffen – eine Regelung, die es Journalisten ermöglicht, Einsicht in behördliche Dokumente zu erhalten. Hintergrund sei offenbar ein persönlicher Vorfall: Medien hätten unter Berufung auf eben dieses Gesetz Amthors enge Verbindungen zur US-Firma Augustus Intelligence aufgedeckt, inklusive Lobbyaktivitäten und Vorteilsannahme. Beobachter werteten den Vorstoß zur Gesetzesänderung als Versuch, journalistische Aufklärungsarbeit künftig zu erschweren.
Ein noch düstereres Bild würden manche Beobachter von der Situation in Ungarn und Tschechien zeichnen. Dort würden Medienlandschaften zunehmend unter politische Kontrolle geraten. In Ungarn seien laut internationalen Organisationen fast alle reichweitenstarken Medienhäuser im Besitz von Unternehmern, die der Regierung Viktor Orbáns nahestünden. Kritische Berichterstattung sei dort nur noch in kleinen Nischen möglich. Ähnliche Entwicklungen seien auch in Tschechien zu beobachten, wo der schwerreiche ehemalige Premier Andrej Babiš über ein umfangreiches Medienimperium verfüge, während der öffentliche Rundfunk stark unter politischen Druck geraten sei.
Auch in Brüssel gerate die demokratische Glaubwürdigkeit ins Visier der Kritik. Die Europäische Kommission und das Parlament stünden zunehmend unter Verdacht, in Korruptionsaffären verwickelt zu sein – etwa bei der Auftragsvergabe im Zusammenhang mit dem Pharmakonzern Pfizer. Die milliardenschweren Verträge seien teils per SMS vereinbart worden, ohne dass Details offengelegt würden. Dies schüre in Teilen der Bevölkerung den Eindruck, dass wichtige politische Entscheidungen in völliger Intransparenz getroffen werden.
Insgesamt spräche vieles für eine systemische Schwächung demokratischer Standards – selbst in Ländern, die sich traditionell als «Hochburgen der Demokratie» verstünden. Zwar gebe es immer wieder positive Signale, etwa durch Gerichte, Medien oder Bürgerbewegungen, doch solange entscheidende Institutionen nicht transparent und glaubwürdig handelten, bleibe das Risiko bestehen, dass sich das Vertrauen der Bevölkerung weiter erodiere.
Es sei nicht der autoritäre Umsturz, der der Demokratie aktuell am meisten schade, sondern der schleichende Verlust an Legitimität – so lautet das Fazit von Pilet. Demokratie sei mehr als ein System, sie lebe vom Vertrauen und von der aktiven Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Genau dieses Fundament beginne vielerorts zu bröckeln.