Ach! es war nicht meine Wahl!
Friedrich Schiller
Liebe Leserinnen und Leser
In Deutschland wird am Sonntag wieder gewählt. Doch es gilt «Wenn das Wählen etwas ändern würde, wäre es illegal», wie die russischstämmige US-Aktivistin Emma Goodman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert feststellte. Der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain meinte zuvor:
«Wenn das Wählen etwas ändern würde, würden sie es uns nicht erlauben, es zu tun.»
Millionen Wahlberechtigte in Deutschland tun es von sich aus nicht mehr. Bei der letzten Bundestagswahl waren das bei einer Wahlbeteiligung von 76,4 Prozent der rund 61,17 Millionen Wahlberechtigten immerhin 14,44 Millionen Nichtwähler (23,6 Prozent). Der «Wahlsieger» SPD konnte mit einem Stimmenanteil von 25,7 Prozent in absoluten Zahlen nur 11,9 Millionen gültige Stimmen für sich verbuchen. Das wären bezogen auf alle Wahlberechtigte nur 19,45 Prozent.
Doch die Macht der Nichtwähler verpufft, da sie beim Ergebnis und der Platzverteilung vom Wahlsystem ignoriert werden, wie auch die ungültigen Stimmen und alle Parteien, die unter fünf Prozent einkommen. Zu den Motiven der Nichtwähler gehört die sogenannte Politikverdrossenheit, eine große Unzufriedenheit mit der Politik und der Eindruck, dass ihre Interessen von den zur Wahl stehenden Parteien nicht vertreten werden.
Laut einer Studie war 2021 das «mit Abstand wichtigste Motiv», der Wahl fernzubleiben, die Annahme, Parteien und Politiker machten, was sie wollten, weshalb es keinen Sinn mache, zu wählen. Menschen, die in prekären Lebensverhältnissen ihre Existenz sichern müssen, gehen seltener zur Wahl als Menschen der bürgerlichen Mitte oder der Oberschicht, wie ein Bericht über eine entsprechende Studie aus dem Jahr 2017 zeigte.
Darin wurden von Langzeitarbeitslosen als Motive für das Nichtwählen angegeben: Fehlendes Vertrauen in die Politik, verlorener Glauben an Sinn und Regeln der Demokratie sowie den Zweck von Wahlen, das Gefühl der Ausgrenzung sowie der Eindruck, dass es keine wirkliche Wahl gebe. Diese Motive bestätigt eine Analyse aus dem Jahr 2017.
Demnach zeigt sich in Deutschland und anderen Ländern, «dass politische Entscheidungen mit höherer Wahrscheinlichkeit mit den Einstellungen höherer Einkommensgruppen übereinstimmen, wohingegen für einkommensarme Gruppen entweder keine systematische Übereinstimmung festzustellen ist oder sogar ein negativer Zusammenhang».
Zu den Ursachen der Entwicklung verweisen die Autoren unter anderem darauf, dass es eine Überrepräsentation oberer Schichten in den gewählten Parlamenten gebe, «die in den letzten Jahrzehnten fast überall zugenommen hat». Im Bundestag sei besonders der hohe Anteil von Akademikern auffällig, aber auch die Berufsstruktur weiche deutlich von der der Gesamtbevölkerung ab.
«Wessen Stimme zählt?» ist der Titel der 2018 als Buch veröffentlichten Dissertation der Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer über soziale und politische Ungleichheit. Sie untersuchte dafür die politischen Entscheidungen auf Bundesebene von 1980 bis 2013 darauf, welche sozialen Schichten mit ihren Interessen berücksichtigt wurden.
Zu den Ergebnissen gehört, «dass die politischen Entscheidungen des Deutschen Bundestages in den letzten dreißig Jahren systematisch zulasten unterer sozialer Klassen verzerrt waren». Keine der regierenden Parteien und Koalitionen habe sich für die Interessen unterer sozialer Klassen eingesetzt und diese in die politischen Entscheidungen eingebracht, was auch für die mittleren sozialen Gruppen zutreffe.
Diese Untersuchung belegt, dass das «Gefühl weniger privilegierter sozialer Gruppen, kein Gehör bei den Verantwortlichen in der Politik zu finden», eine reale Grundlage hat. Elsässer warnte 2018:
«Wenn Menschen langfristig die Erfahrung machen, dass die von ihnen als wichtig erachteten Probleme nicht oder nicht in ihrem Sinne politisch behandelt werden, dann liegt es nahe, dass sie in der Folge das Vertrauen in politische Prozesse oder Institutionen verlieren.»
An diesem Befund hat sich nichts geändert – weil sich die zugrundliegenden Verhältnisse und Zusammenhänge nicht geändert haben. Die Corona-Krise ab 2020 hat das für viele in einem bis dahin unbekanntem Maß deutlich gemacht.
Somit ist auch am Sonntag und danach nicht damit zu rechnen, dass sich daran etwas ändert. Das gilt auch für die Grundlinien der bundesdeutschen Politik, bis hin zu Russophobie, Kriegshetze und Aufrüstung sowie der Ignoranz gegenüber den Interessen der breiten Bevölkerungsmehrheit.
Der SPD-Politiker Franz Müntefering sagte 2006:
«Wir werden als Koalition an dem gemessen, was in Wahlkämpfen gesagt worden ist. Das ist unfair.»
Ob das nach dem Sonntag auch wieder jemand von sich gibt? Sie werden es nicht sagen, aber so handeln. Beim Thema Frieden, das im Wahlkampf so wenig eine Rolle spielte, wäre es wünschenswert, wenn die Kriegstreiberei vor der Wahl, die das eigene Land gefährdet, hinterher keine Rolle spielt.
Aber auch diesen Wunsch vieler Menschen werden jene, die als «Wahlsieger» präsentiert werden, aller Wahrscheinlichkeit nach ignorieren. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich wie immer Lesegewinn und -spaß mit den Beiträgen auf Transition News sowie für den Sonntag eine gute Wahl bei der Frage, wie Sie den Tag am besten nutzen und gestalten.
Herzliche Grüße
Tilo Gräser