Was wird, wenn der Krieg in der Ukraine zu Ende ist? Und wie wird es dann, vor allem das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine? Wie kann der Frieden gestaltet werden? Wie gehen die Menschen beider Länder, die zuvor oftmals durch familiäre Beziehungen eng verbunden waren, dann miteinander um? Kann es dann so etwas wie Gerechtigkeit im Umgang miteinander geben?
Diese Fragen bewegen Clivia von Dewitz, Juristin und Richterin am Amtsgericht Bad Segeberg (Schleswig-Holstein). Sie schlägt eine «Friedenskommission» vor, die nach dem Kriegsende helfen soll, Menschenrechtsverletzungen während des Krieges aufzuarbeiten und statt Rache Versöhnung zu ermöglichen.
In ihrem Buch «Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung» schlägt sie eine solche Kommission vor, deren Vorbild die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission sein soll. Die Juristin hat sich auf die Suche nach Alternativen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Tatverantwortlichen vor nationalen und internationalen Gerichten gemacht.
Clivia von Dewitz im Oktober 2024 in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Kürzlich stellte sie ihren Vorschlag bei einer Veranstaltung in Berlin vor. Dabei zitierte sie Mahatma Gandhi, der gesagt haben soll: «Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg.»
Dewitz verweist in ihrem Buch darauf, dass seit den 1990er Jahren weltweit verschiedene Wahrheitskommissionen ins Leben gerufen worden sind, so in Chile, El Salvador, Guatemala, Peru, Mexiko oder auch Kanada. Sie seien mit dem Ziel geschaffen worden, Straftaten, die im Namen oder mit Billigung eines Staates begangen worden sind, aufzuarbeiten. In Südafrika habe es die Besonderheit gegeben, dass die Kommission einzelnen Tätern Amnestie gewähren konnte.
Das Amnestiemodell sieht sie als mögliches Vorbild für ein ähnliches Verfahren nach dem Krieg in der Ukraine. In Südafrika sei Voraussetzung für eine Amnestie gewesen, dass die Antragsteller ihre Taten umfassend eingestanden haben.
Das sei infolge eines politischen Kompromisses möglich gewesen, mit dem der friedliche Übergang zur Präsidentschaft von Nelson Mandela 1994 gesichert worden sei. Auf mögliche Zweifel an einer Amnestie für schwere Menschenrechtsverletzungen entgegnet die Juristin mit Verweis auf internationale Forschungen zu Opferinteressen. Diese hätten ergeben, dass es Opfern vielfach wichtiger sei, die Wahrheit über das Geschehene zu erfahren, und dass die Täter dafür die Verantwortung übernähmen, anstatt diese zu bestrafen.
Die südafrikanische Kommission habe viele geheime Operationen der Sicherheitskräfte des Apartheid-Regimes aufgedeckt, die sonst nicht ans Licht gekommen wären. Ebenso wichtig sei gewesen, Vertreter von Institutionen wie Presse, Wirtschaft, Militär, Kirchen, Staatsapparat und Parteien anzuhören.
«Darin wurde die umfassende Verantwortlichkeit dieser Institutionen für die allgemeine Stimmung, in welcher die individuellen Menschenrechtsverletzungen geschehen konnten, analysiert», schreibt Dewitz in ihrem Buch. Sie will der üblichen Strafjustiz, deren Ziel nur sei, Schuld nachzuweisen und die Täter zu bestrafen, das Prinzip der Wiedergutmachung entgegensetzen.
Das könne helfen, auch die psychischen Verletzungen der Opfer zu heilen. Die Juristin stützt sich dabei auf das Prinzip der «restorative justice», wie sie im Buch erklärt und was sie im Vortrag erläuterte. Es existiere keine genaue Übersetzung für diesen Begriff, der im Deutschen meist mit «wiederherstellende Gerechtigkeit“ wiedergegeben werde.
Damit würden aber nicht alle Dimensionen des Begriffs erfasst, so von Dewitz, weshalb der Originalbegriff auch im Deutschen verwendet werde. Das Prinzip habe sich in den 1970er Jahren aus der Praxis heraus entwickelt und knüpfe an Traditionen indigener Völker im Bereich von Justiz ebenso an wie an griechische, arabische, römische und asiatische.
Das Ziel sei es, eine Heilung zwischen Täter und Opfer zu erreichen, erklärte die Juristin. Dabei könne die Wahrheit den Weg zur Versöhnung bereiten. Ein wichtiges Prinzip der Wahrheitskommissionen sei die öffentliche Verhandlung, um Transparenz herzustellen.
Am Beispiel Südafrikas berichtete von Dewitz vom konkreten Vorgehen dabei. Das habe vielen Opfern die Möglichkeit gegeben, mit den erlittenen Taten und deren Folgen abzuschließen. Sie wusste aber auch von Beispielen, bei denen die erreichte Versöhnung zwar anfangs erfolgreich zu sein schien, aber Jahre später doch die tiefen inneren Wunden der Opfer aufbrachen.
Sie betonte, dass es neben der Möglichkeit für die Täter, Amnestie zu beantragen, dennoch den Druck auf sie durch ein mögliches Strafverfahren geben müsse. Die müsse es dann geben, wenn Amnestieanträge von der Wahrheitskommission abgelehnt werden. Erfolgten diese nicht, wie in Südafrika geschehen, gebe es große Enttäuschungen auf Seiten der Opfer.
Dass Strafverfahren vor nationalen und internationalen Gerichten notwendig sind, gehört für die Juristin zu den Erfahrungen der bisherigen Wahrheitskommissionen. Außerdem müsse es im Anschluss an die Verfahren vor den Kommissionen Entschädigungen für die Opfer geben, wie sie in Chile und Argentinien erfolgt seien. Solche Gremien dürften kein «Plan B» sein, wenn es darum geht, schwere Menschenrechtsverbrechen aufzuarbeiten. Stattdessen seien sie eine eigenständige Option dafür.
Der Richterin, die sich seit langem mit dem Thema beschäftigt, ist klar, dass die Ausgangslage im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg eine andere ist – und damit auch grundlegend schwieriger. Hier stünden sich zwei unabhängige Staaten gegenüber, deren Parlamente einer möglichen Friedenskommission zustimmen müssten. Diese müsste wiederum paritätisch besetzt sein, mit einer international anerkannten Persönlichkeit im Vorsitz.
Wie das konkret möglich gemacht werden könne, wisse sie nicht, gestand sie ein. Aber entscheidend sei der politische Wille dazu, wie sich bei den bisherigen Wahrheitskommissionen gezeigt habe. Als Sitz der Kommission wären Genf oder Montpellier in Frankreich möglich. Hinzu müssten je ein Büro in der Ukraine und in Russland kommen. Als Zeitraum für die Arbeit der Kommission schlägt von Dewitz sieben Jahre vor.
Zu den Verbrechen, um die es gehen müsse, gehört nach ihren Worten auch die sexuelle Gewalt, also Vergewaltigung, auf Befehl. Das sei immer wieder ein Element der Kriegsführung, sagte sie. Zugleich hofft sie darauf, dass durch eine solche Kommission die Begegnung zwischen Tätern und Opfern ohne Zwang möglich wäre.
Russland und die Ukraine müssten sich im Rahmen von Friedensverhandlungen darauf einigen, dass ein entsprechendes Gremium eingerichtet werde. Neben den Anhörungen der Opfer und Täter müssten auch solche von Institutionen der beteiligten Länder erfolgen, betonte die Juristin.
«Es sollte unbedingt geklärt werden, welchen Einfluss der Westen, die USA und die NATO hatten.»
Sie schlägt ebenso vor, dass das Verfahren für eine mögliche Amnestie sich an dem der südafrikanischen Wahrheitskommission orientiert. Das dürfe aber kein «zahnloser Tiger» sein, sondern müsse im Fall einer abgelehnten Amnestie zu einem Strafverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof führen, erklärte sie in Berlin.
Außerdem sollten die Verfahren öffentlich stattfinden und von den Medien über sie berichtet werden. Von Dewitz verwies dabei auf das Beispiel des Eichmann-Prozesses:
«Es war vor allem die Fernseh- und Radioübertragung der Zeugenanhörungen, die dazu geführt haben, dass in Israel der Holocaust überhaupt und sogar weltweit aufgearbeitet werden konnte.»
Die öffentlichen Kommissionssitzungen und die Medienberichte in Südafrika hätten dort dazu geführt, dass das Geschehen jetzt in den Geschichtsbüchern vermittelt werde. In ihrem Buch skizziert die Juristin ihren Vorschlag für eine Friedenskommission nach dem Ende des Ukraine-Krieges detailliert.
Darin schlägt sie auch Widergutmachungsleistungen für die Opfer durch eine separate Institution, durch einen internationalen Opferfonds vor. An der Finanzierung durch Spenden sollten sich neben Russland und der Ukraine vor allem die Rüstungsfirmen beteiligen. Grundsätzlich stellt die Richterin fest:
«Was es für ein friedliches Miteinander nach schweren Menschenrechtsverletzungen braucht, ist Zivilcourage auf allen Seiten.»
Ihr sind die möglichen Widerstände gegen ihren Vorschlag klar, wie sie auch in der Diskussion mit dem Publikum in Berlin sagte. Ein Einwand lautete, dass ein solches Verfahren bei einem Kriegsgeschehen nicht praktikabel sei, da den Verbrechen nicht jeweils einzelne Soldaten zuzuordnen seien.
Doch die Schwierigkeit, die konkreten Täter zu finden, dürfe nicht davon abhalten, eine solche Kommission einzusetzen, sagte von Dewitz dazu. Sie verwies auf schon durchgeführte Strafverfahren auf ukrainischer Seite gegen russische Soldaten. Es gibt auch Meldungen über entsprechende Urteile gegen ukrainische Militärs durch russische Gerichte.
Zu den institutionellen Anhörungen erklärte sie, dass diese wichtig seien, um die im Hintergrund wirkenden Mächte und Interessen am Geschehen aufzudecken. Im Fall der Ukraine müsse dann auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeladen werden, um die Rolle Deutschlands bei den Vorgängen seit 2014 aufzuklären. Die Juristin stellte fest:
«Es klingt alles utopisch, aber ich finde es wichtig, darüber zu reden.»
Neben Widerspruch bekam sie auch Zustimmung aus dem Publikum der Veranstaltung in Berlin. So erklärte ein Mann, der viele Jahre in der Ukraine gearbeitet hat, dass eine solche Friedenskommission eine Möglichkeit wäre, «damit erstmal die Leute vor Ort wieder ins Gespräch kommen, weil sie gemeinsam dieses Land wieder aufbauen müssen».
Er erinnerte auch an den tiefen Graben zwischen der West- und Ostukraine, den es bereits lange vor 2014 gegeben habe, was er immer wieder persönlich erlebt habe. Von Dewitz warb dafür, «es erst mal kleiner anzugehen». Wichtig sei, dass die Nachbarn wieder miteinander leben können.
«Wir werden nicht den weltweiten Konflikt lösen, auch wenn wir uns das gerne wünschen.»
Und sie wies darauf hin, dass für solche Prozesse der Druck von unten wichtig sei. Um Frieden und Aufarbeitung von Ungerechtigkeiten zu ermöglichen, sei entscheidend, «dass wir hier uns unsere Macht zurückholen müssen». Auch in anderen Bereichen könnte eine Wahrheitskommission nützlich sein, stellte sie klar.
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Buchtipp:
Clivia von Dewitz: «Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung?»
Westend Verlag 2024. 176 Seiten; ISBN 9783864894411; 24 Euro