Im Oktober vergangenen Jahres veröffentlichten wir einen Beitrag von John J. Mearsheimer mit der Headline «Hauptursache für Ukraine-Krieg ist der vom Westen angestrebte NATO-Beitritt der Ukraine». Dass dem so sei, so der US-amerikanische Politikwissenschaftler von der University of Chicago, würde auch durch Aussagen von Jens Stoltenberg, bis zum 1. Oktober NATO-Generalsekretär, bestätigt.
So habe der inzwischen 65-Jährige im Jahr 2023 gleich zweimal darauf verwiesen, dass «Präsident Putin diesen Krieg begonnen hat, weil er die Tür der NATO schließen und der Ukraine das Recht verweigern wollte, ihren eigenen Weg zu wählen». Und kaum jemand im Westen, so Mearsheimer, habe «dieses bemerkenswerte Eingeständnis des NATO-Chefs in Frage gestellt, und er hat es auch nicht zurückgezogen».
Von welch zentraler Bedeutung das Ansinnen der NATO, die Ukraine unbedingt als Mitglied aufnehmen zu wollen, für die Eskalation des Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland im Februar 2022 war, das geht auch aus am Montag bekannt gewordenen Wikileaks-Enthüllungen hervor.
Demnach waren sich US-amerikanische und europäische Beamte seit langem des hohen Konfliktrisikos bewusst, das von den NATO-Ambitionen in Bezug auf die Ukraine ausgeht. Und die US-Regierung habe trotz der Warnungen westlicher Gesandter nach Wegen gesucht, den Widerstand gegen die Idee zu überwinden. Darauf aufmerksam machte unter anderem RT.
Wikileaks zufolge warnte Russland die Diplomaten wiederholt, dass der Beitritt der Ukraine zu dem von den USA geführten Block einen Bürgerkrieg auslösen oder die gesamte Region destabilisieren könnte. Dies würde Russland zu einer Entscheidung zwingen, der es sich nicht stellen möchte, heißt es in einem Video, das WikiLeaks publizierte.
Die Organisation zitiert auch ein Memo des damaligen US-Botschafters in Moskau, William Burns, vom Februar 2008 an die damalige Außenministerin Condoleezza Rice, in dem er davor warnte, dass Russland die NATO-Erweiterung als Sicherheitsbedrohung ansieht. Burns erklärte:
«Russland sieht nicht nur eine Einkreisung und Bestrebungen, Russlands Einfluss in der Region zu untergraben, sondern fürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierte Folgen, die russische Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigen würden.»
Burns wird auch von Mearsheimer in seinem eingangs erwähnten Beitrag zitiert, und zwar wie folgt:
«Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) die klarste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den dunklen Nischen des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern, habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen.
[Die NATO] wird als ein strategischer Fehdehandschuh angesehen. Das heutige Russland wird darauf reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen würden auf Eis gelegt (...) Das würde einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.»
Einem anderen Dokument zufolge teilten damals einige NATO-Mitglieder in Europa diese Ansicht. In einem Telegramm aus dem Jahr 2005, das ein Treffen zwischen dem damaligen stellvertretenden US-Außenminister für europäische und eurasische Angelegenheiten, Daniel Fried, und mehreren hochrangigen französischen Beamten dokumentiert, heißt es, Frankreich sei besorgt darüber, dass der NATO-Kurs der Ukraine einen bewaffneten Konflikt auf dem Kontinent auslösen könnte.
«Wenn es einen potenziellen Grund für einen Krieg in Europa gibt, dann ist es die Ukraine», heißt es in dem Dokument, das den diplomatischen Berater des französischen Präsidenten Maurice Gourdault-Montagne zitiert. Er warnte davor, dass die USA und ihre Verbündeten in Russlands «Kerninteressengebiet» eindringen würden, was eine starke Reaktion hervorrufen könnte.
Fried räumte damals ein, dass es der Ukraine an einem nationalen Konsens über die NATO-Mitgliedschaft fehle, wies aber Bedenken über eine gewaltsame interne Spaltung oder die Reaktion Moskaus zurück.
Den Akten zufolge drängten die USA trotz der wiederholten Warnungen weiterhin auf den Beitritt der Ukraine und beabsichtigten, «die westliche Integration und die NATO-Erweiterung bewusst, aber leise voranzutreiben», während sich Russland «entschieden» dagegen aussprach, wie aus einem Telegramm des damaligen US-Botschafters in Moskau, John Beyrle, vom September 2009 hervorgeht. RT kommentiert:
«Russland hat immer wieder das Streben der Ukraine nach einem NATO-Beitritt und die Aussicht, dass die militärische Infrastruktur des Blocks im Nachbarland auftaucht, als einen der Hauptgründe für den Konflikt genannt. Moskau hat ihn auch wiederholt als ‹Stellvertreterkrieg› gegen Russland bezeichnet, der vom Westen über die Ukraine geführt wird.»
Dieter Staudt, bis 2022 in der Ostukraine als Unternehmer tätig, äußerte sich kürzlich in einem bei Transition News veröffentlichten Interview mit dem Autor Thomas Mayer derweil wie folgt: «Dass Russland eine friedliche Ukraine überfallen hat, ist eine vom Westen gestreute Lüge.»
Staudt kommt zu dieser Ansicht, obgleich er nach eigenem Bekunden sogar sehr schlechte Erfahrungen mit Putins Russland gemacht hgat:
«Ich versichere ... ausdrücklich, dass ich kein besonderer Freund Putins oder Russlands bin. Denn von 2001 bis 2009 war ich Gründer und Direktor einer Firma in Sankt Petersburg, die mir mit Mafia-Methoden von Russen entwendet wurde, wodurch ich einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden erlitt! Keine gute Situation, um freundschaftliche Gefühle zu entwickeln, dennoch bin ich ein wahrheitsliebender Mensch geblieben.»
Und zu dieser Wahrheit zählt für ihn, dass das ukrainischen Militär die Donbass-Republiken im Osten der Ukraine Anfang 2022 durch einen vernichtenden Angriffskrieg zurückerobern wollten. Darauf habe Russland reagieren müssen. Und so sei es zum russischen Kriegseintritt ab dem 24. Februar 2022 gekommen. «Die Ukraine wollte einen Krieg mit Russland und war kein unschuldiges Opfer», so Staudt.
Staudt verweist zudem auf Bodenschätze im Wert von 12 Billionen Dollar, die im Osten der Ukraine schlummern würden. Auch die müssten in den Blick genommen werden, wenn es um die Suche nach den Ursachen für die Konfliktsituation geht.
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