Der Titel dieses Beitrages ist ein Zitat aus der Todesanzeige vom 25. November 1995, die die Tageszeitung Der Bund veröffentlichte. Professor Jakob Amstutz, um den es geht, war am 11. November, am Martinstag wie er wohl sagen würde, verstorben.
Amstutz war einer der bemerkenswertesten Menschen, die ich kennenlernen durfte. Und das kam so: Ich hatte in einer kleinen Zeitschrift einen Beitrag über eine Wagneroper publiziert, der sein Interesse erweckte. Er schrieb mich an und es kam – im Abstand von etwa zwei Jahren – ungefähr Mitte der 1980er Jahre zu zwei Treffen. Wir schrieben uns auch hin und wieder Briefe, und noch kurz vor seinem Tod sprach ich ihn das letzte Mal am Telefon.
Ich möchte mich seiner erinnern, weil es ihm ein Hauptanliegen war, junge Menschen in einem kritischen und unabhängigen Geist zu erziehen. Seine Schülerinnen und Schüler sollte dagegen gefeit sein, sich unhinterfragt an der jeweiligen politischen Grundstimmung oder am Markt auszurichten. Seine Offenheit paarte sich in seltener Kombination mit einer Prinzipienfestigkeit.
Ich erfuhr, dass Jakob Amstutz in Bern Theologie studiert hatte, in Frauenkappelen Pfarrer war und parallel dazu Philosophie studierte und am Berner Lehrerseminar Marzili unterrichtete. Er wäre nur allzu gerne Professor an der Universität Bern geworden, aber der theologischen Fakultät gefiel seine undogmatische Art des Lehrens und Forschens offenbar gar nicht.
So entschloss er sich, nach Kanada auszuwandern, und wurde 1970 Professor für Philosophie an der Universität Guelph, von der er 1986 emeritiert wurde. Er unternahm oft ausgedehnte Reisen nach Europa, manchmal monatelang, wo er Freunde besuchte, Vorträge hielt oder auch Gottesdienste gab. Er haderte lange mit dem Schicksal des Auswanderers – wie gerne wäre er auch in fortgeschrittenem Alter als Professor nach Bern zurückgekehrt!
Die Art, wie er an mich herantrat, war charakteristisch für Jakob Amstutz – immer offen für einen Dialog. Immer froh über Neues und neue Begegnungen, war es für ihn besonders wichtig, auch den informellen Austausch mit Studenten zu pflegen und nicht nur zu lehren, sondern auch zu lernen.
In der letzten Zeit hatte ich das Bedürfnis, mich wieder seiner Person zu nähern. Anhand eines Briefwechsels möchte ich deshalb die Erinnerung an ihn wachhalten.
Es handelt sich um den Briefwechsel mit der Frauenrechtlerin Dr. h.c. Helene Stucki (1889 - 1988), mit der er befreundet war – beide unterrichteten am Berner Seminar Marzili, Amstutz von 1951 bis 1967. Stucki war die Schwester des bekannten Diplomaten Walter Stucki, der während des 2. Weltkriegs die Schweiz in Vichy-Frankreich vertreten hatte und nach dem Krieg das berühmte Washingtoner Abkommen aushandelte.
Nach dem Tod der bedeutend älteren Freundin übergab er den ganzen Briefwechsel der Gosteli-Stiftung, bei der er sich heute noch befindet und eingesehen werden kann. Dieser Artikel stützt sich auf deren Bestand. Die Gosteli-Stiftung ist ein Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung und sammelt Quellen zur Geschichte der Frauen in der Schweiz.
«Beim Wiederlesen ihrer Briefe staunte ich darüber, wieviel an Gedanken, Sorgen, Freuden und Schicksalen wir im Laufe der Zeit geteilt haben», schrieb Amstutz am 11. August 1989 an Marthe Gosteli, Gründerin des «Frauenarchivs», wie er die Institution nannte.
Ich beschränke mich in dieser Arbeit auf Amstutz’ Briefe an seine Freundin, weil es mir um ihn geht und alles andere diesen Rahmen sprengen würde. Was sofort auffällt, ist die kantige Handschrift des Gelehrten, der immer mehr Philosoph als Theologe war. Sie ist wahrhaft unverwechselbar und sofort wiederzuerkennen – mit den Jahren ist sie auch charakteristischer geworden. Und die Briefe wurden Jahr für Jahr mehr – es scheint, dass die Freundschaft über die Zeit trotz großer räumlicher Distanz intensiver geworden ist.
Was weiterhin auffällt, sind die sich langsam ändernden Umgangsformen. Während die ersten Briefe noch formell an ein «Fräulein Stucki» adressiert waren, redete er sie später mit «liebe Freundin», aber immer noch in der Sie-Form an. Am 12. Dezember 1978 schrieb er erstmals an die «liebe Helene» und zwar in der Du-Form.
In einem Brief vom 14. Juli 1958 zeigt sich, dass Amstutz schon früh Pläne für eine Karriere an einer amerikanischen Universität gehegt haben muss. Das Seminar Marzili würde er sehr vermissen und zu dem dort herrschenden guten Geist würde Helene Stucki viel beitragen, schrieb er. Leider ist diese Institution nun in der pädagogischen Hochschule aufgegangen, was die Lehrerausbildung enorm verlängert hat. Ob sie besser geworden ist, scheint mir zweifelhaft.
Ein wenig später, am 1. November 1958, schrieb er an Helene Stucki tröstende Worte zum Tod ihrer Mutter. Mit dem Bild vom Geist, der sich mit dem Tod manchmal langsam, manchmal auch schnell aus dem Fleisch, dem zerfallenden Körper zurückzieht, zeigt er den tiefen Glauben, der ihn trotz seiner offenen und undogmatischen Art stets durchdrang. Trost spendete er durch die Überzeugung, dass der Geist mit dem Tod nicht vergeht, wie er in diesem tiefsinnigen, zweiseitigen Brief schrieb.
Jakob Amstutz war allerdings auch den weltlichen Genüssen nicht abgeneigt. Am 15. Januar 1960 schrieb er seiner Freundin einen Brief vom Albert Schweitzer College in Churwalden. Er wollte sie für den Sommer dort als Referentin gewinnen. Ein wichtiges Argument, um sie zu überzeugen, war, dass es dort guten Wein und gutes Bündnerfleisch geben würde.
In den Jahren 1961 bis 1964 stand in den Briefen wieder der Trost im Vordergrund, der Trost über den Verlust des geliebten Bruders von Helene, den Diplomaten Walter Stucki. Amstutz schrieb über den Tod «als Vorahnung darüber, dass der Verlust eines geliebten Menschen die Türe hinüber ein wenig offenlässt». Und dann über «den Segen und die Verbundenheit zwischen Gott und Mensch und zwischen Menschen und Mensch».
Obwohl Jakob Amstutz gebildete Frauen mochte und ihre Karrieren förderte, schätzte er auch das Familienleben und die Mutterschaft hoch ein. Vielleicht weil ihm dies längere Zeit nicht vergönnt war? Seine erste Frau war schon 1946 im Kindbett gestorben und seine zweite Ehe ging er 1969 ein. 1975 schrieb er über eine abendliche Runde bei Prof. Anna Tumarkin (1875 - 1951), bei der eine Studentin bekanntgab, sie wolle heiraten: «Sie haben Recht,» soll die Philosophin Tumarkin gesagt haben, «für Ehe und Mutterschaft hätte ich die Philosophie aufgegeben.» Ob es ihn störte, dass Frauen damals zwischen Karriere und Familie wählen mussten, falls es überhaupt eine solche Wahl gab?
Wenn man das liest, was Prof. Amstutz 1972 über echte und falsche Religion schrieb und über religiöse Haltungen in einigen westlichen Gebieten, dann vermutet man den Grund, warum die theologische Fakultät der Universität Bern ihn nicht in ihren Reihen haben wollte: Religion ist, so Amstutz, Suchen und Finden von Sinn. Damit beantwortet sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Daseins in Religion. Selbstverwirklichung und Religion sind somit für ihn eng verbunden, wie ich mehreren Briefen aus den Jahren 1968 und 1974 entnehme.
Im Jahr 1976 übersiedelte Helene Stucki ins Berner Burgerheim – Amstutz hatte sich Sorgen um sie gemacht – offensichtlich unbegründet. Am 11. März dieses Jahres schrieb er aus Göttingen, und zwar über seine zweite Frau Renate, was er in der Folge dann öfters tat. Renate war ihm mit der Zeit offenbar eine sehr wichtige intellektuelle Sparringspartnerin geworden.
Als der Theologieprofessor Ulrich Neuenschwander 1977 im Amt verstarb, schrieb Amstutz «an Goethes Geburtstag» bittere Bemerkungen zur Universität Bern nieder: Er sei überall als Nachfolger im Gespräch, außer in der Fakultät selbst. Falls er berufen würde, wäre er gekommen – so schrieb er – aber wegen Bern, nicht wegen der Uni!
Im gleichen Jahr reagierte er ausführlich und in anregender Art auf Helene Stuckis Aufsatz «Vom Januskopf der Tradition». Er unterschied zwischen Stagnation («Erstarren, lebensfeindlich, Gefängnis»), Tradition («geprägte Form, die lebend sich entwickelt -> das ist unser Traditionsbegriff») und Explosion («Chaos, Formlosigkeit, Lebensfeindlichkeit»).
1978 machte er sich wieder einmal Gedanken über Auswanderung und Rückkehr und schrieb über irisch-schottische Mönche wie Beatus, Gallus und Columban, die «das Gelübde abgelegt hatten, das ganze Leben im Heidenlande zuzubringen und der Bekehrung der Barbaren zu widmen, ohne je in die Heimat zurückzukehren». Dieser krasse Vergleich zeigt, wie sehr ihn das Thema beschäftigte.
In seinen Briefen an Helene Stucki schreibt Jakob Amstutz nicht nur aus aktuellem Anlass viel über den Tod. Am 25. Juni 1980 kommentierte er beispielsweise ihren Aufsatz «Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden». Er beschreibt dabei einen weiten philosophischen Bogen von Schopenhauer, der vom Buddhismus beeinflusst sei und den Tod als Erlöschen und Auflösen betrachtet habe, bis zu Hesse, der den Tod als «Aufbruch zu neuen Ufern» begriff.
Später im Jahr berichtete er über ein trauriges Ereignis, das ihn sehr bewegt haben muss: Er schrieb, dass er die Abdankung für eine ehemalige Schülerin gehalten habe, die sich offenbar das Leben genommen hatte. Dabei betonte er, dass «Menschen nicht das Recht haben, jemanden – etwa die Eltern – zu beschuldigen oder gar die Verstorbene zu verurteilen» – ein Ansatz, der zu jener Zeit noch nicht selbstverständlich war.
Aber auch Heiteres kommt zu jener Zeit vor: Er entwickelte anhand des Studentenliedes «Es hatten drei Gesellen» mit einem Augenzwinkern eine ganze Philosophie der Trinität.
Schon im Dezember 1974 hatte er Helene Stuckis Aufsatz «Dank an meine Schülerinnen» kommentiert. Dass die Saat der Lehre seiner Freundin aufgegangen ist, bezeichnete er als etwas vom Schönsten, was es gibt. Das zeigt, wie sehr ihm die Lehre am Herzen lag und welche Kapazität Bern durch die Auswanderung von Jakob Amstutz verlustig gegangen war.
Am 4. Februar 1982 regte sich Amstutz furchtbar darüber auf, dass die Lehrpläne an seiner kanadischen Universität «stärker am Markt» ausgerichtet würden. Anstelle der traditionellen Einführung in die Philosophie würden nun, wie er maliziös schrieb, angeboten: Kurse in «extra marital sex, abortion, racial problems, class-conditioned ethics».
Jakob Amstutz war also nicht nur offen und neugierig, sondern auch prinzipienfest. Die Tatsache, dass die Studenten keine Grundbegriffe der Philosophie mehr lernten, war für ihn, den Philosophieprofessor, nicht akzeptabel. Zum Glück zogen die neuen Kurse nicht und die Reform wurde rückgängig gemacht. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass heute Schülerinnen schon im Gymnasium in schriftlichen Arbeiten nach ihrer sexuellen Orientierung gefragt werden?
Was würde er, der am Seminar Marzili jahrzehntelang Lehrerinnen ausgebildet hat, wohl dazu sagen, dass in gewissen Mittelschulen kein einziges klassisches Buch mehr gelesen wird und überhaupt die Lektüre und die kritische Auseinandersetzung mit Literatur einen sehr geringen Stellenwert zu haben scheint? Was würde er wohl meinen, wenn er sehen würde, dass im Mittelschul-Geschichtsunterricht kaum mehr etwas behandelt wird, was länger als 150 Jahre zurückliegt? Seine Antwort wäre wohl treffend und humorvoll, aber nicht minder deutlich.
Im gleichen Brief zeigt er auf andere Art, wie wichtig ihm die Lehre und die Vermittlung der Fundamente seines Faches waren, denn er machte sich Sorgen darüber, was nach seiner Emeritierung passieren würde. «Wer zeitgemäß europäische Philosophie doziert, müsse mindestens Zugang zu deutschen und französischen Quellen haben» – und das sei dann nicht mehr gegeben, schrieb er. Er würde wohl auch nach der Emeritierung Doktoranden betreuen – was er als Professor emeritus durfte –, so Amstutz, aber er wolle lieber Grundkurse geben!
Wie aus Vorahnung redete er am 15. März 1983 über Krebskrankheiten in der Familie, hielt aber auch einen Vortrag über «André Gide als religiöser Denken», den er in Bern halten wollte. Dabei setzte er sich durchaus kritisch mit Aspekten des Protestantismus auseinander. So schrieb er am 24. April 1983: «Die protestantische Betonung der Innerlichkeit hat zur Vernachlässigung der Form geführt.» Im gleichen Brief antwortete er auf Helenes Bemerkung, sie gehe «furchtbaren Zeiten entgegen» mit der Gegenfrage «Woher weisst Du das?» und mit folgendem Stoiker-Zitat: «Deine Vorstellung vom Leiden macht das Leiden schlimm.»
Um den Jahreswechsel 1983/84 hatte sich Amstutz offenbar einer ersten Operation unterziehen müssen, einer Prostataoperation. In seinem Brief vom 4. Januar 1984 schilderte er diese in der ihm eigenen, humorvollen Art. Er machte sich darüber lustig, dass er sich faul und schläfrig fühle und führte das auf ebensolches Spenderblut zurück. Im Krankenhaus hatte er viel Besuch, von Doktoranden, aber auch von Ärzten, die kamen, um zu philosophieren und ihm dann einen Scotch erlaubten, wenn sie auch einen kriegten ….
Er wechselte aber schnell wieder das Thema. Und ein paar Tage später kritisierte er in einem separaten Brief, dass die Schweiz noch keine Bundesrätin habe, was in Kanada anders sei, obwohl dort Politik destruktiver sei. Später im gleichen Jahr wurde die kürzlich verstorbene Elisabeth Kopp gewählt, was er aber nicht explizit erwähnte. Amstutz hingegen berichtete über eine Kanada-Tournee des Berner Troubadours Fritz Widmer, den er vom Seminar Marzili kannte.
Am 20. Februar 1986 kommentierte er Formen der Verbindung von Mann und Frau. Über unverheiratete Paare schrieb er in der ihm eigenen humorvollen Art: «Das hiesige common law behandelt sie wie Verheiratete. (…) Die Römer kannten vier Formen der Verbindung von Mann und Frau. Man konnte also mehr oder weniger verheiratet sein.» Amstutz war dabei ein Befürworter dieses «trial marriage». Überstürztes Heiraten oder Drängen nach Heirat würde in Scheidung enden.
Am 26. August des gleichen Jahres berichtete er, dass die United Church of Canada über «inclusive language» diskutiere – schon damals. Er fand die Debatte veraltet und überflüssig. Er legte seinem Brief eine Karikatur aus einer Zeitung bei, die einen Zeitung lesenden Teufel zeigte: Diese war beschriftet mit «United Church adopts unisex God». Schon im September 1976 hatte er sich auf eine Frage von Helene gemeldet, warum im Glasperlenspiel von Hesse keine Frau eine wichtige Rolle spielt: «Ist es wesentlich, ob diese Gestalten weiblich oder männlich sind»?
Mir war bisher nicht klar, dass das Thema so alt ist. Aber die Vehemenz, mit der es heutzutage vertreten wird, ist sicher neu.
Auch Privates kommt in den Briefen nicht zu kurz: Er sprach ausführlich über die freundschaftlichen Verhältnisse, die er zu Studenten pflegte. Ein Student habe ihm abends spät einen Schneeball ans Fenster geworfen, wonach er ihn zu einem Schlummertrunk eingeladen habe: «Bob, you want a night cap?» Wenn sie ihm ihre Freuden und Leiden erzählten, vergaß er oft den Altersunterschied. Welch ein Professor!
Seine Manuskripte tippte er sorgfältig in die Schreibmaschine, bewunderte aber seine Frau (Brief vom 15. März 1986), die zu dieser Zeit ihre Dissertation auf einem Computer schrieb.
Aus dem Brief vom 1. Februar 1987 geht hervor, dass die Kräfte seiner Freundin langsam schwinden – vor allem die Sehkraft. Amstutz spendete Trost – mit viel Einfühlungsvermögen.
Der Brief vom 1. April des gleichen Jahres ist eine Antwort auf einen Brief der fast hundertjährigen Helene Stucki, indem sie über Schwierigkeiten beim Gehen berichtet haben muss. Als wäre es eine Zusammenfassung ihres Lebens und ihres Charakters schrieb ihr Freund: «Nietzsche lobte die Stoiker, weil sie es verstanden und übten, in der Welt und gleichzeitig über der Welt zu sein. Er kritisiert nur, dass beim über der Welt stehen oft die Genussfähigkeit, die Feinfühligkeit gelitten haben. Ich glaube, Du hast dieses Ideal einer Synthese von stoischer Unabhängigkeit und epikuräischer Genussfähigkeit.»
Kurz danach, am 24. April, kommentierte Amstutz Helene Stuckis Arbeit: «Meine Lebenshilfe im hohen Alter.» Helene war offenbar fast bis an ihr Lebensende produktiv.
Am 10. Dezember 1987 äusserte er sich in bewegenden Worten zu Helenes Brief, in dem sie geschrieben hatte: «I wott eifach stärbe» (Hochdeutsch: Ich will einfach sterben) mit «Du hesch gar nüt z wölle, Du muesch dr lieb Gott oder der Wältgeischt la mache» (Hochdeutsch: Du darfst nicht wollen, Du musst den lieben Gott und den Weltgeist machen lassen).
Kurze Zeit später, am 15. Januar 1988, kommentierte er das langsame und fröhliche Sterben von Renates Schwester, die sich auf den Eingang in die geistige Welt freute und ihre Kinder auf eine mutterlose Zeit vorbereitete. «My dear Helene», schrieb er, «keep going and follow your fate willingly, as Seneca said» (Meine liebe Helene, geh weiter und folge deinem Schicksal bereitwillig, wie Seneca sagte).
Kurz vor ihrem Tod musste Helene noch den Tod ihrer Schwester verarbeiten. Ihr Freund spendete wieder Trost: «Sicher machst Du die Erfahrung, dass Deine verstorbene Schwester Dich begleitet (…). Euch waren sehr verschiedene Rollen aufgetragen zu spielen (…) und ihr habt sie beide mit Folgerichtigkeit gespielt.»
Am 27. Oktober 1988 schrieb er seiner Freundin einen letzten Brief, in dem er quasi Bilanz zog über einen bemerkenswerten Briefwechsel, der sich ziemlich genau über 30 Jahre hingezogen hatte. Er zitierte aus Goethes westöstlichem Divan: «Denn ich bin ein Mensch gewesen und das heisst ein Kämpfer sein.»
Etwa einen Monat später stand in der Todesanzeige, Helene Stucki sei nach ihrem 99. Geburtstag sanft entschlafen. Bei der Todesanzeige liegt ein Aufsatz von Helen Stucki (undatiert) «Des Lebens Ruf wird niemals enden» (Titel aus Goethes Stufengedicht) über den Tod. Weiter liegt neben der Todesanzeige ein Aufsatz (undatiert) «Kinder und Dichter» – alles charakteristisch für die Frauenrechtlerin, deren Lebenskreis sich geschlossen hatte.
Jakob Amstutz war ein heute leider fast vergessener, aber bedeutender Theologe und Philosoph – ich verdanke ihm manche gedankliche Anregung und Einsicht. Er wollte junge Menschen zu kritischen und unabhängigen Geistern erziehen; dafür hielt er die klassische Bildung für unentbehrlich. Ich weiß nicht, wie er auf die Nachricht reagierte hätte, wonach die renommierte Princeton-Universität Nachweise in Griechisch und Lateinisch für kein Fach mehr verlangt. Aber die Begründung – es handle sich um Sprachen der Kolonialisatoren – hätte ihm sicher gar nicht gefallen.
Die heutige Tendenz, Bildungsangebote nach dem Markt zu richten, oder sie gar darauf auszurichten, dass Menschen so funktionieren, wie es gesellschaftlich und politisch gewünscht wird, war ihm zuwider. Auch die heutige Monokultur an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten hätte ihm nicht behagt. Wir täten gut daran, uns seiner zu erinnern. Seine Fußstapfen waren wohl für sein geliebtes Bern zu groß.
Quellenangabe: Unpublizierte Quellen aus dem Archiv der Gosteli-Stiftung, eigener Briefwechsel mit Jakob Amstutz, Erinnerungen
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