Liest man in letzter Zeit deutsche Systemmedien, so hat man den Eindruck, das Land und Europa befänden sich tatsächlich schon im Krieg gegen Russland, wie die Außenministerin Annalena Baerbock im Januar 2023 während einer Debatte im Europarat in Straßburg dummerweise feststellte. In seinem Meinungsbeitrag auf t-online mit dem Titel «Wird ihr Stahlhelm schon gegossen?» findet der deutsche Journalist Christoph Schwennicke beispielsweise, dass Europa «in höchster Geschwindigkeit in die Lage versetzt werden» müsse, «Russland die Stirn zu bieten». Dies erfordere «eisernen Willen» und, insbesondere bei der jungen Generation, einen «fundamentalen Mentalitätswechsel». Er plädiert für die Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Schwennicke ist selbst der «Leitfigur des Linksliberalismus» Jürgen Habermas «unendlich dankbar», dass er am letzten Freitag in der Süddeutschen Zeitung «seinen Anhängern bei allem sympathischen Drang zum Pazifismus klargemacht hat, weshalb Europa sich jetzt schleunigst rüsten muss für die dunkle Zeit, die angebrochen ist.» Der Journalist relativiert:
«Doch irrt der Mensch, solange er schreibt. Selbst ein Jürgen Habermas. Am Ende seines Aufsatzes nämlich merkt er an, dass in dieser ‹Aufrüstungswelle› irrtümlicherweise einige Übereifrige einer ‹postheroischen Jugend› mit der Wehrpflicht wieder den Stahlhelm überstülpen wollten. Dabei befinde man sich doch ‹inmitten von Staaten, die aus guten Gründen fast alle die Wehrpflicht abgeschafft hätten›, aus der Einsicht heraus, ‹dass diese mörderische Form der Gewaltausübung menschenunwürdig› sei.
Mal abgesehen davon, dass erste Länder wie Schweden sie schon wieder eingeführt haben: Das ist so rührend schlicht und kurz gedacht, dass man meinen könnte, diese Aussage komme vom Loisl oder dem Mariandl, irgendwo von ganz hinten in Vorarlberg und nicht von einem der größten lebenden deutschen Denker. Leider ist es nun mal so, dass wir uns tatsächlich inmitten von Staaten befinden, die diesen Fehler in den Zeiten der großen vermeintlichen Friedensdividende gemacht haben. Aber nun steht all diesen Ländern und uns ein Wladimir Putin in Russland gegenüber, der diese mörderische Form der Gewaltausübung, vulgo: Krieg, furchtbarerweise zum ersten Mittel seiner Politik gemacht hat. Das hat eben alles geändert. Alles.»
Schwennicke kommentiert auch das Cover der aktuellen Stern-Ausgabe. Er ist der Ansicht, dass dessen amtierender Chefredakteur «ein sehr gutes Gespür für Cover und Zeilen» zeigt. «Würden Sie für Deutschland kämpfen?» steht da nämlich unter der Bildmontage eines Jugendlichen mit einem halben Helm auf dem Kopf und laut Schwennicke «unschuldigem Blick».
Man fragt sich, woher diese bellizistischen Schreiberlinge die Gewissheit haben, dass «der Russe» in Kürze vor dem Brandenburger Tor steht, wenn Deutschland und Europa nicht schleunigst aufrüsten. Die realen Ursachen der Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 werden dabei geflissentlich ignoriert. In erster Linie sind das natürlich die NATO-Osterweiterung sowie der westliche Putsch in Kiew 2014 und der darauffolgende Krieg des ukrainischen Militärs gegen die vorwiegend russischstämmige Bevölkerung im Osten des Landes.
Doch selbst wenn der russische Präsident Vladimir Putin tatsächlich imperialistische Ambitionen haben sollte, wie permanent kolportiert wird, zeigt eine Greenpeace-Studie vom November 2024, dass ein russischer Angriff auf Europa oder Deutschland unrealistisch ist. In der Arbeit mit dem Titel «Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der NATO und Russlands» analysiert die NGO eben das militärische Kräfteverhältnis. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die NATO Russland in nahezu allen militärischen Schlüsselbereichen deutlich überlegen ist.
Laut der Studie investieren die NATO-Staaten derzeit insgesamt fast zehnmal mehr in ihre Verteidigung als Russland, mit 1,19 Billionen Dollar gegenüber 127 Milliarden Dollar. In spezifischen Bereichen zeigt sich diese Überlegenheit ebenfalls: Die NATO verfügt zum Beispiel über 5406 Kampfflugzeuge, während Russland nur 1026 besitzt. Und mit über drei Millionen Soldatinnen und Soldaten ist die NATO-Armee mehr als doppelt so groß wie die russische mit ihren 1,33 Millionen, «davon lediglich ca. 40 Prozent westlich des Urals».
Vor diesem Hintergrund hinterfragen die Autoren die Notwendigkeit der Aufrüstung in Europa und plädieren für eine ausgewogenere Sicherheitsstrategie, die nicht ausschließlich auf militärische Stärke setzt. Und die Studie wurde erstellt, bevor die EU-Staaten und Deutschland beschlossen haben, als Reaktion auf die Friedensbestrebungen des US-Präsidenten Donald Trump bezüglich des Krieges in der Ukraine weit über eine Billion Euro zusätzlich in die Aufrüstung zu stecken.
Aus der Greenpeace-Studie geht jedoch auch hervor, dass die NATO auch ohne die USA Russland militärisch überlegen wäre, wenn auch mit einem deutlich geringeren Vorsprung. So betrugen die Militärausgabe von «NATO-Europa» 2023 rund 430 Milliarden Dollar und 2024 über 500 Milliarden US-Dollar, also wesentlich mehr als Russland mit seinen 127 Milliarden Dollar. Selbst kaufkraftbereinigt stehen gemäß den Autoren diese 430 Milliarden Dollar 300 Milliarden Dollar russischer Ausgaben gegenüber.
Demnach besitzen die NATO-Staaten diesseits des Atlantiks auch eine größere Anzahl Großwaffensysteme als Russland, zum Beispiel 2073 Kampfflugzeuge und 140 Hauptkriegsschiffe gegenüber 1026 respektive 33. Und was die Truppenstärke betrifft, verfügt NATO-Europa über 1,91 Millionen Soldatinnen und Soldaten, während Russland eben auf etwa 1,33 kommt. Einzig bei der Anzahl an Nuklearwaffen ist Russland den europäischen NATO-Staaten überlegen. Zur Abschreckung reichen aber auch wenige Atomsprengköpfe.
Das alles macht klar: Ein Angriff Russlands auf Europa entbehrt jeglicher Logik. Allerdings könnte die westliche Kriegspropaganda zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, sollten die europäischen Länder das Kriegsbeil nicht begraben und sich noch mehr in den Ukraine-Krieg involvieren. Russland betrachtet nämlich manche NATO-Länder schon heute als Kriegspartei.
Aber sollten aus diesem Grund tatsächlich russische Bomben oder Raketen auf NATO-Europa fallen, hätte das nichts mit russischem Imperialismus zu tun, sondern wäre der Dummheit westlicher Politiker geschuldet – oder ihrer Unverfrorenheit und Verlogenheit. Denn in den Chefetagen der Rüstungsindustrie und bei ihren Aktionären knallen derweil die Korken. Eine sehr große Verantwortung würden dabei jedenfalls die Systemmedien tragen. Denn anstatt die bellizistische Politik zu hinterfragen, peitschen sie die Bevölkerung so richtig auf einen Krieg ein. Bleibt die Frage: Würden diese Journalisten die Tastatur mit dem Gewehr und dem Stahlhelm tauschen und auch selbst «für Deutschland kämpfen»?
Kommentare