Wer dezidierte Kritik an Israels Vorgehen in Gaza übt, wird vielerorts schneller, als ihr oder ihm lieb ist, als «Antisemit» geframed. Dies geschah etwa in Bezug auf die Teilnehmer der Berlinale. Bundesjustizminister Marco Buschmann hat am 27. Februar öffentlich erklärt, dass die Berlinale schweren Schaden genommen habe, weil dort «Antisemitismus viel zu unwidersprochen» geblieben sei. Hintergrund ist ein Auftritt des Filmemachers Ben Russell, der Genozid-Vorwürfe gegen Israel erhoben hat.
Des Weiteren hat der jüdisch-israelische Filmemacher Yuval Abraham auf die aus seiner Sicht existierenden Apartheids-Strukturen in Israel hingewiesen. Und sein Co-Regisseur, der palästinensische Filmemacher Basel Adra, forderte Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Daraufhin schrieb der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Volker Beck, der auch Politiker der Grünen ist, auf der Plattform X (vormals Twitter), dies sei «ein kultureller, intellektueller und ethischer Tiefpunkt» der Berlinale.
Vor diesem Hintergrund wollten die Nachdenkseiten vom Justizminister wissen, welche der Äusserungen laut Herrn Buschmann tatsächlich den Vorwurf des Antisemitismus erfüllten. Ergebnis: Buschmann könne einen solchen Beleg nicht beibringen, so die Nachdenkseiten am 29. März.
Dennoch schreibt Welt-Autor Harald Martenstein vier Tage später:
«(...) die antisemitischen Ausfälle auf der Berlinale zeigen, wie sehr ein woker Pseudoantifaschismus den Kulturbetrieb erobert hat. Was nicht ins Weltbild passt, wird ignoriert – etwa Empathie mit ermordeten Juden.»
Die Nachdenkseiten hingegen ordnen die Gemengelage ganz anders ein:
«Es zeugt von einer enormen Hybris, wenn ausgerechnet ein deutscher Justizminister unter anderem einen regierungskritischen jüdischen Israeli, der einen Grossteil seiner Familie im Holocaust verloren hat, zum Antisemiten erklärt. Ein Vorwurf, der neben seiner offensichtlichen Gehaltlosigkeit und Anmassung zugleich direkte Konsequenzen sowohl für den jüdischen und als auch den palästinensischen Regisseur hatte.
So berichtet Yuval Abraham, dass am 26. Februar ein ‹rechtsgerichteter israelischer Mob› zum Haus seiner Familie kam, um nach ihm zu suchen, und Familienmitglieder bedrohte. Er hätte zudem nach den ‹Antisemitismus›-Vorwürfen deutscher Politiker und Medien zahlreiche Morddrohungen aus Israel erhalten.»
Doch es ist nicht nur der fehlende Beweis, dass auf der Berlinale antisemitische Äusserungen getätigt wurden, der Sätze wie die von Martenstein überdreht und unverständlich erscheinen lässt, sondern auch die unverkennbare Bestialität des Vorgehens der israelischen Armee. Warum sollte man die nicht beklagen dürfen, ohne sich gleich einem Antisemitismusvorwurf ausgesetzt zu sehen? Dass auch die Gegenseite Gräueltaten verübt hat, steht hier natürlich nicht in Frage.
So schreibt Michael Lesher, US-Journalist mit jüdischen Wurzeln, in einem Beitrag für den OffGuardian:
«Bis vor kurzem dachte ich, dass mich keine Nachrichten mehr über Israels Grausamkeiten gegen die gefangenen Menschen in Gaza schockieren könnten – oder über die unnachgiebige Unterstützung jeder einzelnen Gräueltat durch meine orthodoxe jüdische Gemeinde.
Ich hatte die zerfetzten Leichen der palästinensischen Kinder gesehen. Ich hatte die zerbombten Überreste der letzten funktionierenden Krankenhäuser im Gazastreifen gesehen und die Patienten, die darin getötet worden waren. Ich hatte gesehen, wie hilflose Bewohner des Gazastreifens von israelischen Scharfschützen kaltblütig ermordet wurden, als sie versuchten, ein wenig Trinkwasser zu holen.»
Zudem habe er von Ärzten gelesen, die gezwungen gewesen seien, Gliedmassen ohne Betäubung zu amputieren, von Müttern, die ihre Kleinen nicht vor Bomben oder Krankheiten hätten retten können, und von «religiösen» israelischen Juden, die absichtlich die Lastwagen blockiert hätten, die versuchten, ein Rinnsal lebensrettender Hilfsgüter nach Gaza zu liefern, und die buchstäblich auf der Strasse getanzt hätten, als sie Erfolg hatten.
Doch dann habe er etwas gesehen, das ihn noch tiefer erschüttert habe als all das: wie sich ein Rabbiner eine Träne aus dem Auge wischte. Der Rabbiner habe der streng antizionistischen religiösen Gruppe Neturei Karta angehört und mit einem Interviewer über die israelischen Verbrechen gesprochen sowie darüber, dass jeder wirklich religiöse Jude diese ablehnen müsse. Und während er gesprochen habe, habe ihm der Interviewer ein Video von einem der jüngsten Blutbäder gezeigt, in dem verwundete palästinensische Kinder vergeblich nach ihren ermordeten Eltern gerufen hätten. Lesher weiter:
«Und – ja – während er sich diese schreckliche Szene ansah, tupfte der Rabbiner eine Träne mit den Fingerknöcheln einer Hand ab. Es war eine ganz natürliche Geste. Und doch hat sie mich erschüttert – und zuerst konnte ich nicht verstehen warum.
Doch dann wurde mir klar, was mich an dieser Träne so beunruhigt hatte: Während all der Schrecken von Israels völkermörderischem Feldzug in Gaza, der nun schon fast fünf Monate andauert, war dies das erste Mal, dass ich einen orthodoxen Rabbiner – oder überhaupt einen meiner orthodoxen jüdischen Glaubensbrüder – gesehen hatte, der auch nur das geringste Anzeichen von Rührung über das Leid zeigte, das der sogenannte jüdische Staat den Palästinensern zugefügt hatte.»
Seine orthodoxen Glaubensbrüder könnten sich zwar erschüttert zeigen über geköpfte israelische Babys und gruppenvergewaltigte israelische Frauen – «Dinge, die wahrscheinlich nie passiert sind», so Lesher. «Aber angesichts der unbestreitbaren Beweise für echte Verbrechen, die an echten Frauen und Babys begangen wurden, schaltete jeder orthodoxe Rabbiner, der sich öffentlich zu diesem Thema äusserte, sofort in den Apologetik-Modus», also in einen Rechtfertigungsmodus.
So würden dann Sätze vorgetragen wie: «Es war alles die Schuld der Hamas, die sich gewehrt hat. Die Opfer in den Videos haben wahrscheinlich mit ihren Verletzungen übertrieben. Krieg ist Krieg. Und ausserdem sind es ja nur Palästinenser, also was ist schon dabei?»
Was die erschütternden menschlichen Tragödien in Gaza betrifft, seien die Rabbiner vielleicht nur ein «Haufen Rechenmaschinen» gewesen, so Lesher. «Und das nur, wenn sie das Gemetzel nicht aktiv feierten.» So habe Noach Isaac Oelbaum, ein prominenter New Yorker Rabbiner, kürzlich vor einem grossen Publikum orthodoxer Juden Folgendes gesagt, die Worte der Tora* seien ihre Waffen (gegen Gaza):
«Jede Seite der Gemara [Teil des Talmuds**] ist ein Geschoss; jeder Tosafot*** ist eine Rakete; und jedes Kapitel an Psalmen ist eine Bombe.»
Kein Antisemit hat die Tora jemals prägnanter verleumdet. Aber Rabbi Oelbaum war nicht der einzige, der das Judentum mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Verbindung brachte: Der Oberrabbiner des Vereinigten Königreichs, Ephraim Mirvis, rief ausdrücklich zur Ausrottung auf und sagte: die «Hamas [sprich Gaza, meint Lesher] darf nicht weiter existieren». Und in Israel war die öffentliche Äusserung von Rabbi Meir Mazuz, die Bewohner des Gazastreifens seien «Tiere», die es verdienten zu Tode gehungert zu werden, so typisch für die Haltung orthodoxer Juden, dass sie in der Presse kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Es habe zwar Ausnahmen gegeben – darunter die Rabbiner von Neturei Karta. Und er ehre sie alle, so Lesher. Aber abgesehen von solchen Ausreissern, deren Zahl man praktisch an den Finger einer Hand abzählen könne, fragt er:
«Wann haben Sie das letzte Mal einen orthodoxen Juden gesehen, der eine Spur von menschlicher Rührung angesichts der Schrecken gezeigt hat, die den hilflosen Palästinensern angetan werden? Einen Sinn für Gerechtigkeit oder auch nur ein bisschen Reue, weil man die Unterdrücker unterstützt hat, sucht man bei ihnen vergebens. Und ich spreche von noch weniger: vom minimalen Anzeichen eines funktionierenden menschlichen Herzens. Wo ist es?»
Orthodoxe Juden seien auch mit am «hässlichsten» gewesen in ihren Reaktionen auf die Selbstverbrennung von Aaron Bushnell, eines Ingenieurs der Luftwaffe, der sich aus Protest gegen die Beteiligung des US-Militärs an den Massakern an Palästinensern vor der israelischen Botschaft in Washington selbst in Brand gesetzt hat (Transition News berichtete).
Die orthodoxe Zeitung Yeshiva World News etwa habe Bushnells Tod als «Folge einer Geisteskrankheit» abgetan, ebenso wie eine Reihe orthodoxer Juden in den sozialen Medien. Ein Lubawitsch-Rabbiner, der behauptete, «für die Juden und das Judentum» zu sprechen, habe sich einer noch sadistischeren Sprache bedient, indem er behauptet habe, Bushnell habe sich «im Dienste der Hamas umgebracht» und jeder, der sich über die Zustände in Gaza beschwere, sei einer «Blutschande» schuldig. Lesher:
«Soweit ich das beurteilen kann, hatte kein einziger orthodoxer Rabbiner den Anstand anzuerkennen, was jeder weiss: dass Joe Biden Bushnells Tod leicht hätte verhindern können, indem er einfach ‹Nein› zu Israels jüngsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesagt hätte – und dass er dies vielleicht getan hätte, wenn die Sprecher des ‹religiösen› Judentums einen Funken moralischer Ehrlichkeit gezeigt hätten, als es am meisten zählte.
Wenn es wahnsinnig ist, [wie es Bushnell tat, nämlich] sich selbst zu töten, um sich nicht an einem Völkermord mitschuldig zu machen, wie sollen wir dann Geistliche nennen, die das abscheulichste Verbrechen der Welt bejubeln und dann einen Mann verleumden, der sein Leben gibt, um gegen etwas zu protestieren, das sie schon lange hätten anprangern müssen? Wäre ‹Wahnsinn› nicht ein zu mildes Wort?»
Im Übrigen finde die Unmenschlichkeit der Rabbiner nicht in einem Vakuum statt. Anfang dieses Monats habe etwa Dara Horn, ein weiteres amerikanisches Sprachrohr der israelischen Propaganda, auf den Seiten von The Atlantic verkündet, dass US-College-Studenten, die gegen das israelische Gemetzel in Gaza protestierten, in Wirklichkeit Nazis seien, die sich für die Vernichtung der Juden einsetzten.
Da frage man sich manchmal, so Lesher, wie tief die Apologeten Israels noch sinken könnten.
* Die Tora ist der erste Teil des Tanach, der hebräischen Bibel.
** Der Talmud ist eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums.
*** Tosafot sind frühmittelalterliche Sammlungen von Kommentaren zum Talmud.
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