In Deutschland wird am Sonntag wieder gewählt: Ein neuer Bundestag muss her, nachdem die «Ampel»-Koalition aus SPD, Grünen und FDP im Herbst 2024 zerbrach. In der Folge wird es auch eine neue Regierung geben, je nachdem, welche der 29 zur Wahl stehenden Parteien entsprechend viele Stimmen bekommt.
«Wenn das Wählen etwas ändern würde, wäre es illegal» – das hat die russischstämmige US-Politikaktivistin Emma Goodman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts festgestellt. Der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain meinte zuvor: «Wenn das Wählen etwas ändern würde, würden sie es uns nicht erlauben, es zu tun.»
Das dürfte bis heute gelten, so dass von den Ergebnissen am Sonntag in Deutschland kaum tatsächliche Veränderung zu erwarten ist. Mit den Ursachen für die Neuwahl und den mangelnden Aussichten für eine neue Politik beschäftigt sich die soeben erschienene Ausgabe 3/4-25 des Nachrichtenmagazins Hintergrund mit dem Schwerpunktthema «Wahlen – ändern die was?».
Im Editorial des Heftes heißt es:
«‹Unter faulen Äpfeln gibt’s nicht viel Wahl›, lässt Shakespeare seinen Hortensio in ‹Der Widerspenstigen Zähmung› klagen. Damit sind keine politischen Wahlen gemeint, aber wie so oft bei Shakespeare ist auch dieser Sinnspruch von erstaunlicher Aktualität und Mehrdeutigkeit.»
Die Umstände, die zu den vorgezogenen Bundestagswahlen in Deutschland geführt haben, würden die tiefgreifenden Probleme und Disproportionen der Repräsentativdemokratie verdeutlichen, heißt es. Das Heft soll laut der Redaktion «hinter die Fassade von Wahlen schauen».
Dazu gehören der Beitrag über die zunehmende Militarisierung der deutschen Politik, mit der sich der ehemalige Bundeswehr-Offizier Jochen Scholz ebenso auseinandersetzt wie der Politikwissenschaftler Ekkehard Lieberam. Scholz zeigt, wie mit der Lüge von der «russischen Gefahr» die bundesdeutsche Gesellschaft wie im Kalten Krieg unter Druck gesetzt wird. Er zitiert aus der Erzählung «Kassandra» von Christa Wolf:
«Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eignen täuschen.»
Der Historiker Stefan Bollinger beschreibt in dem Heft am Beispiel dreier deutscher Schicksalswahlen, wie es dabei «um alles oder nichts für Deutschland» ging. Doch am Ende waren demnach die Wahlen von 1919, 1933 und 1990 «nur die notarielle Beglaubigung der radikalen Wendungen deutscher Geschichte, die dem bestehenden Machtblock – hinter welcher Fassade auch immer – das Bestehen der kapitalistischen Macht- und Eigentumsstrukturen sicherten».
Eine außenpolitische Bilanz der «Ampel»-Koalition zieht der Politikwissenschaftler Erhard Crome. Die sieht nicht gut aus, aber was folgen wird, dürfte ebenfalls dem nicht gerecht werden, was Crome als notwendig beschreibt:
«Ein eigenständiger Beitrag zum Frieden in Europa wäre, wenn Deutschland eine eigene politisch-diplomatische Rolle in einer Kriegsverhinderungspolitik einnimmt statt neuer Kriegstüchtigkeit.»
Das liegt auch daran, dass «Deutschland unter Vormundschaft» der USA steht, wie der Publizist Wolfgang Bittner in einem Auszug aus seinem Buch «Niemand soll hungern, ohne zu frieren» feststellt. Das gilt zumindest bisher – wie weit die Veränderungen durch den neuen Kurs von US-Präsident Donald Trump gehen, ist bis auf die Panikreaktionen in Berlin darauf noch nicht abzusehen.
Mit den Verwerfungen der Postdemokratie, die zu einem «smarten Despotismus» führt, setzt sich der Philosoph Horst Poldrack auseinander. Der Politologe Andreas Wehr analysiert in der neuen Hintergrund-Ausgabe das «elitäre Projekt Parteiendemokratie» am Beispiel des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), dessen Abschneiden am Sonntag von manchen mit Spannung erwartet wird.
Grundsätzliche Fragen, wie die nach dem Verhältnis von «Monopolkapital und Fassadendemokratie», beantwortet der Schweizer Psychologe Mark Galliker. Er stellt fest:
«In den sogenannten demokratischen Staaten werden wichtige politische Entscheidungen weder durch das Volk noch durch dessen Vertreter im Parlament veranlasst. Es handelt sich bei dieser Staatsform um eine Fassadendemokratie, welche vor allem die Freiheit des Kapitals garantiert.»
Der Wirtschaftspädagoge Herbert Storn beschäftigt sich mit der «Schizophrenie zwischen Aufrüstung und Ökologie in der Propaganda». Die Verhältnisse und Zusammenhänge zwischen Medien und Revolutionen sowie Wahlen und Macht nimmt der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen in seiner Kolumne in den Blick.
In weiteren Beiträgen und Interviews geht es um die Fragen, ob es Frieden in Europa ohne Russland geben kann, was in Georgien geschieht, welche Entwicklung sich in Ungarn seit 1989 vollzog und warum Europa «in einem grauenhaften Zustand» ist, wie der ehemalige hochrangige UN-Diplomat und heutige EU-Parlamentarier Michael von der Schulenburg feststellt. Ebenso wird der Frage nachgegangen, was geschieht, wenn das Öl knapp wird, und warum ein Film über den Einsatz von Uran-Munition durch die NATO im Krieg gegen Jugoslawien 1999 beinahe nicht gedreht worden wäre.
Zudem analysiert Karin Leukefeld, warum es seit mehr als 100 Jahren Krieg im Nahen Osten gibt und wer diesen nährt und davon profitiert. Der Psychoneuroimmunologe Christian Schubert erklärt im zweiten Teil des Hintergrund-Interviews mit ihm mit Blick auf die Corona-Krise und darüber hinaus, warum wir «den gierigen Mächtigen ihr Instrument entziehen» müssen.
Der Historiker Lothar Schröter erinnert an die Gründung des Militärbündnisses METO mit Staaten im Mittleren Osten, angeführt von den USA, vor 70 Jahren. Die «Sozialstaatswirtschaft» als mögliche Systemalternative stellt schließlich der Sozialinformatiker Horst Müller vor.
Eine solche tatsächliche Alternative steht am Sonntag nicht zur Wahl. Was notwendig wäre, damit sich etwas ändert und auch wieder mehr Menschen einen Sinn in den Wahlen sehen, darauf macht die neue Hintergrund-Ausgabe zumindest aufmerksam.
Hinweis:
Der Autor ist Redakteur in Teilzeit bei der Zeitschrift Hintergrund.
Hintergrund 3/4-25: «Wahlen – ändern die was?»
84 Seiten; 8,80 Euro; im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im Abo
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