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Am 8. Mai wird das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal begangen. 80 Jahre nach jenem Tag, der in das kollektive Gedächtnis Deutschlands eingeschrieben ist als Tag der Befreiung, als Tag der Kapitulation des Dritten Reiches, des Sturzes eines Regimes, das die Welt in den Abgrund gerissen hatte. Ein Tag, der vor allem eines bedeutet: Erinnerung an die Millionen Opfer, an die millionenfachen Retter. Und doch wird in diesem Jahr ein Stuhl leer bleiben.
Das Auswärtige Amt hat nämlich entschieden: Der russische Botschafter ist unerwünscht bei den offiziellen Feierlichkeiten. Der Repräsentant jenes Staates, der einst als Teil der Alliierten das nationalsozialistische Deutschland zerschlug, bleibt draußen. Ausgeladen, weil der heutige Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht vereinbar sei mit dem Geist des Gedenkens. Eine Entscheidung, die mehr über das gegenwärtige Deutschland aussagt als über das vergangene.
Was wie eine moralische Haltung wirken soll, entlarvt sich bei näherem Hinsehen als politischer Offenbarungseid. Geschichte wird selektiv gelesen, instrumentalisiert für die Gegenwart. Man trennt Opfer von Opfern, Täter von Tätern – nicht nach der historischen Wahrheit, sondern entlang geopolitischer Zweckmäßigkeit. Die Sowjetunion, die einst 27 Millionen Tote in diesem Krieg zu beklagen hatte, wird zur Randnotiz, weil Russland heute Feindbild ist. Man redet über Auschwitz, aber schweigt über Leningrad. Man gedenkt der Befreiung, aber nicht ihrer Befreier.
Das ist kein Fortschritt, das ist Geschichtsklitterung. Und doch: Nicht alle machen dabei mit. Die Stadtverwaltung von Berlin-Treptow – zuständig für das sowjetische Ehrenmal, wo über 7000 Rotarmisten begraben liegen – stellt sich quer. Sie will das Gedenken nicht per Dekret entkoppeln von der historischen Wahrheit. Ob die Feierlichkeiten dennoch stattfinden können, wie es sich gehören würde, bleibt ungewiss. Der politische Streit überschattet seit drei Jahren diesen Tag, der dem Erinnern gewidmet sein sollte, in für mich unverzeihlicher Weise.
Auf dem Territorium Deutschlands befinden sich mehr als viertausend Grabstätten, in denen mehr als 700.000 Sowjetsoldaten ruhen. Doch etwas wurde jedes Jahr deutlich: Es kamen trotz alledem viele Menschen. Vielleicht mehr denn je. Sie kamen, um Blumen niederzulegen. Um an jene zu erinnern, die hier begraben liegen – ungeachtet der aktuellen Feindbilder. Sie werden auch dieses Jahr da sein. Auch wenn ein Stuhl leer bleibt. Denn Erinnerung lässt sich nicht ausladen.
Gesicht des Systems
Wenige Tage nach der Nachricht aus dem Auswärtigen Amt von der Ausladung des russischen Botschafters traf ich ihn. Einen alten Bekannten aus dem erweiterten Kreis meiner Familie. Anwalt, Anfang 60, Geschäftsführer einer großen Kanzlei in Koblenz, gut im Geschäft, noch drei Jahre bis zur Pension. Ein Häuschen in bevorzugter Gegend, kleiner Garten, eine Frau, keine Kinder. Einer, der sein Leben auf sichere Fundamente gebaut hat.
Wir kamen ins Gespräch. Über den Krieg, über die Ukraine, über das, was hierzulande niemand hören will – die nationalistischen Strukturen, die Gewalt, die Verbrechen, die nicht (mehr) in die Schlagzeilen passen. Denn im Jahr 2014/ 2015 hatte der Mainstream die Nazis in seinen reichweitenstarken Zeitungen und im Fernsehen konkret benannt – dann brachen diese Informationen abrupt ab und die Medien konzentrierten sich auf sogenannte Separatisten im Donbass.
Mein Bekannter lächelte. «Das glaub’ ich nicht», antwortete er kurz. Ein Reflex. Keine Nachfrage, keine Neugier, kein Ringen um Wahrheit. Ein Satz, der alles abwehrte. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihm begegnete – und auch nicht das erste Mal, dass er sein Weltbild so klar verteidigte. Nach den Corona-Jahren vertrat seine Kanzlei die Kommunen. Gegen Bürger, die klagten – gegen Kritiker der Maßnahmen. Es war ein gutes Geschäft, sagte er. «Das Geschäft brummte.» Er lachte dabei. Kein Witz, kein Augenzwinkern – eher die selbstzufriedene Feststellung, dass der Mechanismus funktioniert. Dass Angst Aufträge schafft. Dass der Druck der Medien, die Panik der Politik, die Überforderung der Bürger den Markt für Argumente am Laufen hält.
Er war bereit, weiter zu profitieren. «Wenn es wieder eine Pandemie gibt – das Geschäft läuft wieder.» Er sagte das, als wäre es eine logische Folge, ein Naturgesetz. Dass es gar nicht darauf ankommt, ob die Maßnahmen verhältnismäßig waren, ob die Evidenz stimmte. Der Mainstream hielt es für richtig – also verteidigte er es. Weil dort, wo Angst regiert und Anpassung zur Tugend wird, immer jemand profitiert. Er sagte das nicht zynisch, sondern als Selbstverständlichkeit. Ein System, das ihn nährte. Er lieferte die Argumente – nicht, weil sie wahr waren, sondern weil sie passten. Und weil er daran glaubte, nach all den Veröffentlichungen.
Er hatte sich, wie er meinte, «auf die Impfung gefreut». Er verteidigte Entscheidungen, die das RKI selbst in internen Protokollen längst als zweifelhaft einstufte. Einschätzungen, die zu Beginn der Grippewelle andere waren, bevor die Politik sie begradigte, das RKI unter Druck setzte – und die öffentliche Linie festzurrte.
Und dieser Anwalt? Er passte sich an. Er argumentierte für die Linie, die bezahlt. In Corona-Zeiten. Heute in der Ukraine-Frage. Sein Lächeln war kein Mangel an Information. Es war das Gesicht einer inneren Haltung: Was ich nicht glauben will, was ist nicht wahr. Er ist kein Einzelfall. Er ist ein Typus. Menschen wie er leben vom Gehorsam. Sie glauben, was ihr System von ihnen verlangt. Und sie sichern es ab – mit Paragrafen, mit Argumenten, mit der Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen.
Diese Begegnung ließ mich nicht los. Sie war kein Zufall. Sie war ein Fenster auf die Frage: Wer trifft solche Entscheidungen? Wer lädt einen russischen Botschafter aus – 80 Jahre nach der Befreiung? Wer hält an den einfachen Bildern fest?
Der Anwalt war ein Symptom. Die Strukturen dahinter sind tiefer. Und so begann ich, genauer hinzusehen. Denn es sind Typen, die diese Entscheidungen tragen – keine Einzelpersonen. Sie handeln nach Mustern. Diese Muster bestimmen das Klima in den Amtsstuben, in den Beratungszimmern, in den Hinterzimmern politischer Macht. Es sind nicht immer dieselben Menschen – aber es sind dieselben Haltungen. Ich habe sie beobachtet, immer wieder. In verschiedenen Kontexten, in verschiedenen Systemen. Sie tauchen auf, wo Verantwortung abgegeben, wo Moral zur Staffage wird. Und diese Typen will ich beschreiben.
Der Karriere-Opportunist
Die Anpassung ist sein Prinzip: Er ist der Typus, der in jeder Regierung Bestand hat – egal ob unter Schröder, Merkel oder Scholz. Loyal zur Linie, biegsam im Rückgrat. Entscheidungen trifft er nicht aus Überzeugung, sondern aus Berechnung: Was stärkt meine Position, was vermeidet Konflikte nach oben? Im Fall des ausgeladenen Botschafters heißt das: Der Opportunist weiß genau, dass die Bundesregierung aktuell keinen Raum für historische Differenzierung lässt. Der moralische Druck, sich von Russland abzugrenzen, ist maximal.
Der Opportunist liefert, was erwartet wird. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst, aufzufallen. Oder schlimmer noch: anzuecken. Er ist das, was Hannah Arendt einst die Schreibtischtäter nannte – nicht aus böser Absicht, sondern aus gedankenloser Anpassung.
Der Überzeugungstäter
Der Überzeugungstäter ist Transatlantiker aus Prinzip: Ein anderer Typus ist nicht minder bedauerlich, aber aus anderem Holz geschnitzt. Der Überzeugungstäter glaubt an das, was er tut. Er sieht die Welt als Kampfzone von Gut und Böse – und Russland ist für ihn das Reich des Bösen. Aufgewachsen in den Denkfabriken westlicher Werte, sozialisiert in transatlantischen Netzwerken, glaubt er an das Primat des Westens: Demokratie, Menschenrechte, NATO. Alles, was diesen Block infrage stellt, ist Feind – und muss bekämpft werden, selbst auf symbolischer Ebene.
Für ihn ist das Ausladen des russischen Botschafters kein diplomatischer Affront, sondern ein Akt moralischer Hygiene. Sein Problem: Er ist blind für die Grautöne der Geschichte. Er sieht nur das Heute, projiziert es rückwirkend auf das Gestern. Dass ohne die Rote Armee Auschwitz nicht befreit worden wäre? Für ihn nebensächlich. Die Ukraine ist der neue Fixpunkt seiner Welt – alles andere wird untergeordnet.
Wertloser Verwalter
Der Technokrat ist ein werteloser Verwalter. Er ist weder überzeugter Ideologe noch zynischer Karrierist. Er ist einfach jemand, der Prozesse managt. Für ihn ist Geschichte ein administratives Problem: Wer könnte sich durch den Auftritt des russischen Botschafters gestört fühlen? Welche Wellen schlägt das medial? Wie reagieren unsere Partner? Er denkt in Checklisten, nicht in Kategorien von Verantwortung. Für ihn zählt, was funktioniert, nicht, was richtig ist. Geschichte ist für ihn Kulisse, kein innerer Kompass.
Dass historische Verantwortung auch moralischen Mut verlangt? Kein Thema für ihn. Und dieser blinde Glaube an Prozesse endet nicht bei der Politik. Er reicht bis in den eigenen Körper. Der Technokrat nimmt, was ihm verordnet wird. Medikamente, Maßnahmen, Einschränkungen – solange sie «offiziell» sind, solange sie aus den richtigen Kanälen kommen. Er fragt nicht nach, ob es ihm guttut. Er fragt, ob es genehmigt ist.
Manchmal erkennt man das schon an seiner äußeren Erscheinung. Fettleibigkeit ist hier kein Zufall. Sie ist der Ausdruck eines Körpers, der längst aufgibt, weil der Kopf nicht mehr hinhört. Weil die Achtsamkeit verloren ging, als die Prozesse wichtiger wurden als das eigene Leben. Der Technokrat vertraut den Strukturen mehr als sich selbst. Selbst wenn sein Körper längst etwas anderes sagt.
Mitläufer mit Restzweifel
Und es gibt jene, die nicht im System arbeiten, aber vom System leben. Es ist der Systemprofiteur und sein Geschäft mit der Angst: Anwälte, Berater, Unternehmer – die Argumente liefern, die das System braucht, um sich zu stützen. Sie haben keinen Eid auf Neutralität geschworen, keine Loyalität zu einer Partei, keinem Staatsdienst. Sie liefern – gegen Rechnung. Der Anwalt gehört hierher. Er ist kein Überzeugungstäter, kein Technokrat. Er ist Geschäftemacher. Sein Maßstab ist der Markt. Und solange der Markt von Angst lebt, solange die Politik Druck erzeugt, solange Medien Bilder liefern, die Panik erzeugen – brummt das Geschäft.
Das war in der Pandemie so. Das ist im Krieg so. Wer Argumente verkaufen kann, verkauft sie – ohne zu fragen, ob sie wahr sind. Nur ob sie bezahlt werden.
Er lachte, als er erzählte, wie gut das Geschäft lief. Kein Hohn. Kein Zynismus. Einfach die Bestätigung: Das System funktioniert. Und wenn es wieder eine Pandemie gibt – läuft es weiter. Diese Profiteure halten das System nicht am Laufen, weil sie glauben, sondern weil sie verdienen. Und glauben daran.
Es gibt auch noch den Mitläufer mit Restzweifel, eine Mischform: Zwischen dem reinen Technokraten und dem Opportunisten gibt es jene, die noch spüren, dass etwas nicht stimmt. Sie haben die Prozesse verinnerlicht, sie folgen den Regeln, sie argumentieren mit dem, was sie gelernt haben –, aber sie sind nicht taub für das, was in ihnen selbst vorgeht.
Ein Weggefährte des Anwalts ist so einer. Er hörte zu. Zögerte. Und erst, als sein Körper nach den (selbst) verordneten nicht mehr das tat, was er sollte, als die Energie nachließ, der Antrieb schwand – begann er zu zweifeln. Nicht an allem, aber an genug, um das nächste Mal genauer hinzusehen. Diese Mischtypen sind das, was das System am dringendsten fürchtet: Menschen, die noch einen Rest Instinkt behalten haben. Die noch offen sind für den Bruch in ihrem Weltbild. Sie haben gelernt, dem Mainstream zu folgen –, aber sie haben auch gelernt, dass der eigene Körper nicht lügt.
Wenn sie zuhören – nicht nur nach außen, sondern auch nach innen – könnten sie den Unterschied machen. Der entwurzelte Elitemensch ist fremd im eigenen Land, er ist der Funktionär, der nie gelernt hat, Geschichte als etwas Lebendiges zu begreifen. Aufgewachsen im selbstgefälligen Westdeutschland, fernab von Krieg, Verfolgung, Flucht. Geprägt von einem Selbstbild als Teil einer post-nationalen Elite, die sich mehr mit Brüssel und bislang auch mit Washington identifizierte als mit den Opfern von Leningrad oder Stalingrad.
Für ihn sind diese Geschichten alt, fern, fast exotisch. Russland ist für ihn nicht Teil europäischer Erinnerung, sondern ein dunkler Fleck auf der geopolitischen Landkarte. Dass unter den Gräbern in Treptow vielleicht auch die Vorfahren heutiger Russen liegen? Eine Randnotiz. Ihn interessiert die Gegenwart, nicht das Erbe. Sie alle stehen sinnbildlich für ein politisches Klima, das Geschichte instrumentalisiert, um in der Gegenwart nicht zu stören. Und so bleibt der Stuhl leer.
Gehorsam als Konstante
Eine Freundin aus Sachsen-Anhalt sagte kürzlich etwas, das mir sehr nahe ging. Sie kennt den Osten, wie ich; sie kennt den Westen, wie ich. Und sie kennt die Mechanismen des Mainstreams:
«Zur Kaiserzeit schwor der Mainstream dem Kaiser die Treue. Als der gestürzt war, wurde, wer zu lange loyal geblieben war, verfolgt. Dann kam Hitler – und wieder folgte der Mainstream. Nach 1945? Dieselbe Logik: Wer gestern noch Beifall klatschte, wurde geächtet. Dann folgte die sozialistische Parteitreue, bis auch dieses System fiel. Und wieder wendete sich der Mainstream gegen seine einstigen Bannerträger.
Heute rennt er der gendergerechten, klimaberauschten Pseudodemokratie und Cancel-Kultur hinterher, ordnete sie ein. Man kann nur hoffen, dass auch das einmal als Irrtum erkannt wird.»
Es ist die alte Geschichte. Die Narrative wechseln, der Gehorsam bleibt. Der Mainstream passt sich an – nicht aus Überzeugung, sondern weil es einfacher ist, zu folgen, als zu widerstehen. Er hält den Kurs, solange der Kurs stabil erscheint.
Die Typen, die ich beschrieben habe, sind keine Ausnahmen. Sie sind das Rückgrat dieses Gehorsams. Nicht weil sie glauben. Sondern weil sie es nicht riskieren wollen, im falschen Moment auf der falschen Seite zu stehen. Es ist ein Muster, das sich durch die Geschichte zieht – von der Kaiserzeit über Hitler, den Sozialismus bis ins Heute. Die Formen ändern sich. Die Parolen auch. Der Reflex bleibt. Und vielleicht ist das die eigentliche Herausforderung in unserer Zeit: Nicht der nächste Irrtum. Sondern die Frage, ob wir ihn erkennen, bevor es zu spät ist.
Es gibt Stimmen, die lassen sich nicht in Typologien pressen. Keine Rollen, keine Narrative, keine politischen Lager. Nur die rohe Erfahrung eines Lebens, das von den Folgen dieser Entscheidungen gezeichnet ist.
Ukraine – Blick von innen
Ich erhielt Ostermontag einen Brief von einer geflüchteten Ukrainerin, die heute in Rheinland-Pfalz lebt. Sie kam auf mich zu, weil sie spürte, dass ich zuhöre, wo andere abblocken. Weil sie wusste, dass es Räume geben muss, in denen das Unsagbare gesagt werden kann. Dieser Brief ist einer dieser Räume. Sie schrieb mir am 21. April. Eine Ukrainerin, die weiß, wovon sie spricht. Ihre Worte tragen den Schmerz eines Landes, das sich selbst verloren hat – und ist Mahnung an jene, die noch zuhören wollen. Ihren Namen, so bat sie mich, soll ich aus Sicherheitsgründen anonymisieren. Den übersetzten Text veröffentliche ich ausführlich.
B. schreibt:
«Es schmerzt mich, auf mein Land zu blicken, das blutet. Aber ich verstehe, dass dieser ganze Horror nicht enden wird, solange es kein allgemeines Verständnis und keine Reue gibt. Ich verstehe, dass wir selbst an dieser schrecklichen Tragödie schuld sind. Wir haben es schweigend zugelassen, dass eine nationalistische Minderheit ihre Ideologie aufzwingt und umsetzt. Nicht alle haben die Maidan-Proteste in der Ukraine unterstützt. Und selbst unter denen, die sie unterstützt haben, waren viele nicht mit den Parolen des Maidan einverstanden. Ich erinnere mich sehr gut, wie damals die Hauptparole des ersten Maidan kultiviert wurde: ‹Moskali (abfällige Bezeichnung für Russen, Red.) an den Galgen!› und ‹Wer nicht hüpft, ist ein Moskali!›
Könnt ihr euch vorstellen, dass in Europa eine Menge Menschen auf einen Platz geht und brüllt: ‹Polen an den Galgen!› oder ‹Deutsche an den Galgen› oder ‹Franzosen aufhängen!›? Deshalb, wenn man sagt, ‹die Ukraine ist ein Opfer der Aggression›, ist das eine Lüge. Die Ukraine hat alles Mögliche und sogar Unmögliches getan, um Russland zu provozieren. Acht Jahre lang wurden wir mit Hass gegen Russen aufgeladen, acht Jahre lang war die Hauptparole: ‹Moskali an den Galgen!› Darauf wurden die Kinder erzogen. Es war ja lustig, zu hüpfen und zu rufen: ‹Wer nicht hüpft, ist ein Moskali!› oder ‹Moskali an den Galgen!› Das war ein Boom – Videos wurden gemacht, wie kleine Kinder, die gerade sprechen gelernt hatten, hüpfen und diese Parolen brüllen, während die Erwachsenen daneben lachten und die Kinder dafür lobten.
Ich erinnere mich an ein Video, in dem ein kleines Mädchen hüpfte und brüllte, und ihr Vater fragte sie: ‹Was wirst du machen, wenn du groß bist?› – und es schrie zurück: ‹Ich werde Russen abschlachten!› Die Erwachsenen lachten. Und solche Videos gab es viele.
Krank vor Hochmut
Sagt mir, was für Menschen können aus solchen Parolen heranwachsen? Warum wurde niemand für solche Mordaufrufe zur Verantwortung gezogen – nennen wir die Dinge endlich beim Namen. Warum wurde das nicht unterbunden und niemand bestraft? Warum wurden die Besitzer von Restaurants in der Westukraine nicht zur Rechenschaft gezogen, die auf ihren Speisekarten ‹Filet russischer Säuglinge›, ‹Cocktail Gorlowka-Madonna› oder ‹Set Allee der Engel› und viele weitere abstoßend sadistische Namen stehen hatten? Die ‹Gorlowka-Madonna› – das war eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm, die im Juli 2014 in Gorlowka (Donezk) starb, als sie ihr Kind vor ukrainischen Granaten schützte. Die ‹Allee der Engel› – das ist ein Kinderfriedhof in Donezk für Kinder, die seit 2014 durch Beschuss von ukrainischer Seite ums Leben kamen.
Kann mir jemand sagen, dass dies das Verhalten eines Opfers ist? Nein, das ist das Verhalten von Menschen, die von Hass zerfressen sind und nach Blut dürsten. Das ist gewöhnlicher Nazismus in seiner reinsten Form. Und diese kleine Bande abgebrühter Nazis hat – natürlich nicht ohne Hilfe von Sponsoren aus Übersee – nacheinander Maidans organisiert und es geschafft, ein riesiges Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Leider war ein großer Teil der Gesellschaft leicht beeinflussbar. Einer der Todsünden ist Hochmut, und genau das ist hier ein leuchtendes Beispiel: eine ganze Nation ist tödlich krank vor Hochmut. Der Hauptslogan in der Ukraine lautet jetzt: «Ukraine über alles.» Nicht Gott, nicht die Wahrheit, nicht die Gerechtigkeit – sondern die Ukraine an erster Stelle. Und die Ukrainer sind entsprechend die ‹höhere Rasse›.
Kommt euch [Deutschen] das bekannt vor?
Der Hass auf Russen ist einfach manisch geworden. Im ganzen Land werden historische Denkmäler zerstört, Straßen umbenannt, Bücher der größten Klassiker der Weltliteratur verbrannt, alles, was mit Russland zu tun hat, wird ausgelöscht. Und das begann nicht 2022, sondern 2014. Seit 2014 begann die Ukraine, ihre eigenen Bürger im Donbass zu bombardieren, weil sie sich weigerten zu hüpfen und zu brüllen: ‹Moskali an den Galgen!›, weil sie sich weigerten, ihre Denkmäler abzureißen und ihre Straßen nach Nazi-Verbrechern umzubenennen, weil sie in ihrer Muttersprache sprechen wollten.
Über 50 Prozent der Bevölkerung im Donbass sind ethnische Russen, etwa 90 Prozent sprechen Russisch. Und dafür begann man, sie einfach zu bombardieren. Denn der Hass auf alles Russische war so groß, dass man meinte: Wer nicht alles Russische ablehnt, hat kein Recht auf Leben, der muss physisch vernichtet werden. Und ich frage noch einmal: Ist diese Ukraine ein armes, unschuldiges Opfer der Aggression?
Etwa 2019 führte eine internationale Psychologenorganisation Trainings in Tschernihiw (östlich von Kiew) für ukrainische Psychologen durch, die sich um Frauen kümmerten, die unter physischer und psychischer Gewalt gelitten haben. Einige von ihnen kamen aus den Frontgebieten Lugansk und Donezk. Sie berichteten von der Hölle, in der sie arbeiten mussten. Fast alle Schulmädchen in der Nähe der Frontlinie wurden vergewaltigt, regelmäßig. Eine Lehrerin wandte sich an den Kommandanten einer ukrainischen Einheit und bat ihn, seine Soldaten zu disziplinieren, weil bereits Mädchen schwanger wurden. Seine Antwort war grob und obszön: ‹Meine Soldaten sind Engel, und wenn du noch einmal kommst, wirst du es bereuen.›
Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber die Ukraine ist offensichtlich kein Opfer. Acht Jahre lang bombardierten sie den Donbass, töteten ihre eigenen Bürger, vergewaltigten Kinder. Und als das Maß voll war und die Antwort für diese monströsen Verbrechen kam, wurden wir plötzlich zum Opfer. Aber war der Donbass nicht Opfer der ukrainischen Aggression? Zwölf Jahre leben sie nun unter Beschuss. Dort ist eine ganze Generation von Kindern aufgewachsen, die nie Frieden gekannt haben. Wo ist die internationale Gemeinschaft, warum schließt sie die Augen vor der ukrainischen Aggression?
Unantastbare Kaste
Doppelte Standards. So kann man aus einem Verbrecher ein Opfer machen. So wird Weiß zu Schwarz und Wahrheit zu Lüge. Natürlich zerreißt es mein Herz, ich habe Freunde und Verwandte verloren – auch jetzt, nach 2022. Es ist alles sehr grausam und ungerecht. Aber ich verstehe auch, dass all das, was in der Ukraine passiert, eine Folge unserer eigenen Handlungen ist. Gibt es einen anderen Ausweg? Leider nein.
Selbst jetzt ändert sich nichts. Die Menschen haben Angst, auf Russisch zu sprechen. Ein Mann in Uniform schlug eine Frau in einem ukrainischen Restaurant ins Gesicht, weil sie ein russisches Lied auf dem Handy abspielte. Er sah wohlgenährt aus, solche kämpfen nicht an der Front. Diese Nazis prügeln die, die Russisch sprechen, nehmen ihnen das Geschäft weg. Wenn jemand sich weigert, sein Geschäft zu übergeben, wird er verprügelt, als Verräter bezeichnet, ins Gefängnis geworfen oder getötet. Die wahren Nazis kämpfen nicht an der Front. Sie nutzen den Krieg als Deckmantel für Raub. Verschwinden Menschen, fragt keiner. Krieg eben … Die ‹gerechte› Sache: Russen haben kein Recht auf Leben, also ist es ‹Gerechtigkeit›, ihnen alles zu nehmen.
Abgeordnete der Werchowna Rada [= ukrainisches Parlament] propagierten seit 2014 interethnischen Hass. Sie erklärten Menschen aus dem Donbass zu zweitklassigen Menschen. Der Nazismus wurde nicht nur nicht unterdrückt, sondern auf höchster Ebene gefördert. Verbrechen, die Nazis begangen haben, wurden nicht untersucht, wodurch sie zu noch größeren Verbrechen ermutigt wurden. Der Sänger Skryabin wurde ermordet, weil er die Wahrheit über den Donbass sagte. Journalisten und Schriftsteller wie Oles Busina, Pawel Scheremet, Georgi Gongadse – diese Liste könnte ich lange fortsetzen – wurden getötet, weil sie zu viel Wahrheit sprachen. Und selbst Massaker wurden nicht aufgeklärt.
Im Mai 2014 verbrannten Nationalisten Menschen im Gewerkschaftshaus in Odessa bei lebendigem Leib. 42 Menschen starben – und niemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen. Ist es da verwunderlich, dass diese Leute verstanden haben, dass sie eine unantastbare Kaste geworden sind, eine höhere Kaste? Welche Verbrechen sie auch begehen – niemand bestraft sie, im Gegenteil: Sie werden zu nationalen Helden gemacht, erhalten Ämter und Auszeichnungen. Sie selbst kamen an die Macht.
Einige Krankheiten können nur operativ geheilt werden. Die Ukraine lässt sich nicht ohne einen chirurgischen Eingriff heilen.
Bruno Jasieński sagte einmal: ‹Mit dem stillschweigenden Einverständnis der Gleichgültigen geschehen alle Verbrechen der Welt.› Wir haben das wieder bestätigt. Mit unserem Schweigen ließen wir all das geschehen. Aber es ist nie zu spät für Einsicht und Reue. Und noch etwas: Wer dieses Regime unterstützt, der mein Land ins Elend gestürzt hat, wird sein Mithelfer.»
[Ende des Briefes]
Den zweiten Teil dieses Beitrags veröffentlichen wir morgen.
Quellen und Anmerkungen:
1. Russische Botschaft Berlin (germany.mid.ru) - 700.000 Sowjetbürger, über zwei Drittel davon unbekannt, an mehr als 4.000 Grabstätten: https://germany.mid.ru/de/embassy/botschaft_der_russischen_f_deration_main/about_war_memorial/?
2. 7000 Rotarmisten im Ehrenmal Berlin-Treptow - Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: https://kriegsgraeberstaetten.volksbund.de
3. Berliner Zeitung: https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/gegen-baerbock-bezirksamt-treptow-wird-russischen-botschafter-nicht-rauswerfen-li.2318538
4. https://de.rt.com/meinung/241400-unter-polizeischutz-russische-und-deutsche-neonazis-drohen-berlin-putinisten-mit-tod/
5. NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg bei der Bundespressekonferenz am 23. April nach: https://youtu.be/K6j9KiEPIZQ;
6. Hintergrund: https://youtu.be/xZ3Am0ZGH2Q
7. Protokolle: Russisches Staatsarchiv, veröffentlicht von Ria Novosti, 20.4.2025: “Der FSB hat neue freigegebene Archivdokumente veröffentlicht, die von den barbarischen Experimenten der Nazis an Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenhausen berichten. Gefangene wurden in Gaskammern getötet und erhielten tödliche Injektionen. Wie der ehemalige Kommandant von Sachsenhausen, Kaindl, bei Verhören zugab, starben viele sowjetische Kriegsgefangene im Konzentrationslager.“
8. https://www.youtube.com/watch?v=K6j9KiEPIZQ&authuser=0
9. https://www.youtube.com/watch?v=xZ3Am0ZGH2Q&authuser=0
10. Einleitung: Das Massaker, das die Ukraine und die Welt veränderte: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_1
11. Widersprüchliche Narrative über das Maidan-Massaker in der Ukraine: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_2
12. Videorekonstruktion und Inhaltsanalyse des Maidan-Massakers am 20. Februar 2014: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_3
13. Zeugenaussagen von mehreren Hundert Zeugen und 14 geständigen Maidan-Scharfschützen: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_4
14. Aussagen verletzter Maidan-Aktivisten und weiterer Zeugen im Prozess und bei Ermittlungen: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_5
15. Forensische ballistische und medizinische Untersuchungen durch ukrainische Regierungsexperten: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_6
16. Das Massaker am 18. –19. Februar 2014 und weitere Gewalt während des Euromaidan: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_7
17. Gerichtsurteil zum Maidan-Massaker sowie Vertuschung, Blockade und Manipulation von Beweismitteln: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_8
18. Schlussfolgerungen und Auswirkungen auf den Russland-Ukraine-Krieg und andere Konflikte in der Ukraine: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_9
19. Erstveröffentlichung am 2.Mai 2025 Globalbridge.ch Link: https://globalbridge.ch/der-leere-stuhl-oder-erinnerung-laesst-sich-nicht-ausblenden/
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Sabiene Jahn studierte Kommunikation der Werbewirtschaft und arbeitet als Journalistin, Moderatorin, Sängerin und Synchronsprecherin. Sie beschäftigt sich mit gesellschaftspolitischen Themen sowie der Recherche extremistischer Strukturen. Sabiene Jahn organisiert die parteifreie Veranstaltungsreihe «Koblenz: Im Dialog», um gesellschaftspolitischen Austausch zu fördern. Als Friedensaktivistin entwickelt sie Konzepte zur Deeskalation und Inklusion. Zudem leitet sie das internationale Musikensemble «Nobel Quartett».
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