Vor kurzem berichteten wir darüber, dass der Organisationspsychologe Richard Davis beklagt, Menschen würden «die essenzielle Fähigkeit verlieren, andere zu verstehen und eigenständig zu entscheiden». Als Grund wird der Umstand genannt, dass Technologien, soziale Medien und künstliche Intelligenz immer mehr unseren Alltag durchdringen.
Ähnliche einschneidende Kritik kommt vom Sozialpsychologen Jonathan Haidt. Dieser hat mit einer Datenauswertung regelrecht dramatische Ergebnisse präsentiert: nämlich eine sprunghafte Zunahme ab dem Jahr 2010 von schweren Depressionen und Angststörungen bei jungen Amerikanern um rund 150 Prozent, also um das Zweieinhalbfache, eine Verdreifachung der Rate von Selbstverletzungen bei Mädchen sowie ein Ansteigen der Suizidrate um 188 Prozent.
Referenzwert sei jeweils die Situation junger Menschen vor dem für die Veränderungen entscheidenden Jahr 2010 – als die neue Frontkamera der Smartphones den Boom der Selfies ermöglicht habe. Derweil sind auch die Raten von Selbstverletzungen, Selbstmordversuchen und Einsamkeitsgefühlen bei der Generation Z, definiert als nach 1996 Geborene und von Haidt als «die ängstliche Generation» bezeichnet, stark angestiegen.
Das Smartphone spielt also eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund ist die britische Journalistin Decca Aitkenhead der Frage nachgegangen, wie digitale Entgiftung das Leben junger Menschen verändern kann. Um Antworten darauf zu finden, hat sie ein Experiment durchgeführt, bei dem zehn Jugendliche einen Monat lang weitgehend auf Smartphones verzichten sollten.
Dazu schreibt The Defender unter Berufung auf die im britischen Sunday Times Magazine veröffentlichten Resultate:
«Um Haidts Theorien zu testen, heckte Aitkenhead einen kühnen Plan aus, an dem ihre Söhne Jake, 14, und Jody, 13, zusammen mit acht ihrer Freunde im Alter von 13 bis 15 Jahren beteiligt waren.
‹Zum Entsetzen meiner Söhne habe ich mir ein Experiment ausgedacht›, merkt Aitkenhead an. Die ersten Reaktionen der Teenager reichten von Abneigung bis hin zu regelrechter Panik. ‹Meine Freunde machen das auf keinen Fall›, erzählte ihr Jake. ‹Das geht nicht.›»
Doch dann nahmen doch zehn junge Menschen teil. Dabei mussten sie einen Monat lang ihre Smartphones in Zeitschlossbehältern einschließen, auf die sie nur eine Stunde täglich Zugriff hatten. Um nicht von jeglicher Kommunikation abgeschnitten zu sein, erhielten sie «Light Phones», also praktisch «stumme Telefone», die nur Anrufe, SMS und andere Minimalfunktionen gestatten.
Wie The Defender weiter schreibt, habe sich insbesondere die Rekrutierung von Mädchen als schwierig erwiesen. Aitkenhead habe diesbezüglich angemerkt, dass diese Schwierigkeit möglicherweise auf den stärkeren Einfluss der sozialen Medien auf weibliche Jugendliche zurückzuführen sei.
Schließlich hätten doch zwei Mädchen am Experiment teilgenommen, wodurch sich wichtige Erkenntnisse über die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Smartphone-Nutzung und deren Auswirkungen ergeben hätten.
So fand Aitkenhead heraus, dass Jungen ihre Smartphones hauptsächlich für Snapchat, Spotify und Sportvideos nutzen, während Mädchen deutlich mehr Zeit auf Social-Media-Plattformen verbringen. Dies schien einen stärkeren negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit und das Selbstbild der Mädchen zu haben, was sich mit Haidts Forschungsergebnissen deckt.
Teil des Experiments war ein zweitägiger unbeaufsichtigter Campingausflug, bei dem die Fähigkeit der Jugendlichen getestet werden sollte, sich in der realen Welt ohne ständige digitale Verbindung zurechtzufinden.
Dieser Aspekt des Experiments habe sich mit einem weiteren zentralen Anliegen in Haidts Arbeit befasst, so The Defender: dem Verlust von Unabhängigkeit und freiem Spiel in der modernen durchtechnisierten Kindheit. Haidt erwähnt diese Punkte in einer Einleitung zu einem Artikel über besagten unbeaufsichtigten Smartphone-freien Campingausflug, der von Lenore Skenazy und Haidt verfasst und auf Haidts «After Babel»-Substack-Account veröffentlicht wurde.
Skenazy wiederum ist die Autorin von «Free-Range Kids: How Parents and Teachers Can Let Go and Let Grow» (Freilaufende Kinder: Wie Eltern und Lehrer loslassen und wachsen lassen können). Zudem ist sie gemeinsam mit Haidt Gründerin von Let Grow, einer «Bewegung für kindliche Unabhängigkeit».
Der einmonatige digitale Entzug führte zu überraschenden Ergebnissen. So hätten die ursprünglich skeptischen Teenager nach anfänglichen Schwierigkeiten realisiert, dass ein smartphonefreies Leben mit unerwarteten Vorteilen einhergehen kann. Der 14-jährige Teilnehmer Lincoln etwa wird wie folgt zitiert:
«Man fängt an zu erkennen, dass das, was auf dem Smartphone passiert, keine Rolle spielt. Man wird nie auf dem Sterbebett sagen: ‹Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit meinem Handy verbracht.›»
Viele berichteten auch, dass sie sich weniger müde und konzentrierter fühlten. Rowan, ein weiterer Teilnehmer, hat in der Zeit, in der er sonst durch seinen Social-Media-Feed gescrollt hat, ein 700-seitiges Buch über Basketball gelesen. Aitkenhead:
«In weniger als 36 unbeaufsichtigten Stunden scheinen sie etwa zwei Jahre erwachsener geworden zu sein.»
Obwohl einige Kinder später berichteten, dass es ihnen schwer gefallen sei, nicht in alte Muster zurückzufallen, sagten am Ende der Reise alle, dass sie ihre Handys nicht vermisst hätten. Die meisten hatten sogar aufgehört, die tägliche Smartphone-Stunde in Anspruch zu nehmen. Die beiden Mädchen hatten die größten Schwierigkeiten mit dem smartphonefreien Monat, schienen sich aber der Gefahren bewusst zu sein.
The Defender zitiert auch die 13-jährige Rose, die zu Aitkenhead sagte: «Warum sollte man seinem Kind ein Handy geben? (...) Wenn man weiß, wie schädlich es ist – [es erzeugt] nur Druck und Spitznamen und Etikettierungen und unmögliche Standards –, warum sollte man seinen Kindern so etwas geben?»
Haidt spricht in diesem Zusammenhang folgende Warnung aus:
«Wir sprechen hier wirklich von einem zivilisatorischen Zusammenbruch. Wenn die Dinge so weitergehen wie bisher, dann, ja, (...) werden wir eine immer kleiner werdende Bevölkerung mit immer mehr ängstlichen Menschen haben.»
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