Bergkarabach, seit mindestens 2000 Jahren praktisch vollständig armenisch besiedeltes Gebiet, gibt es in dieser Form nicht mehr. Das Gebiet ist praktisch menschenleer, nur einige Alte und Gebrechliche, sowie Armenier in offizieller Funktion sind bisher zurückgeblieben, wie der Infosperber schrieb.
In einem kurzen Krieg hatte im September Aserbaidschan die armenische Enklave bezwungen. Die Führung Bergkarabachs löst nun alle politischen Strukturen auf. Sie hat praktisch kapituliert, im Gegenzug erhielt sie das Recht für die Bevölkerung, die Enklave, die Seite dem letzten Dezember von Aserbaidschan belagert und ausgehungert wurde, ungehindert zu verlassen.
Eine Konstante dieses Konfliktes besteht darin, dass die Weltgemeinschaft einmal mehr tatenlos zusah, wie eine ethnische Säuberung stattfand, wie Menschen die angestammte Scholle, die sie über Jahrtausende bewirtschaftet hatten, von einem Tag auf den anderen definitiv verlassen mussten.
Aserbaidschan hatte zwar zugesichert, das Leben der Armenier zu schonen, das Misstrauen war aber, genährt aus vergangenen Konflikten, derart gross, dass sich über 90% der Karabachbewohner für die Flucht entschieden und all ihr Hab und Gut zurückliessen. Es scheint ausserdem, dass die Aseris schon die ersten der zum Teil seit tausend Jahren bestehenden Kirchen und Klöster zerstört haben.
Aserbaidschan hat sich praktisch zu 100% durchgesetzt. Der diktatorisch regierende Präsident Alijew triumphiert.
Wir haben bereits hier, hier und hier über die Entstehung und den Fortgang dieses jahrhundertealten Konfliktes berichtet.
Der Westen schaut weg
Zwar hatte der Westen nach dem Beginn des Ukrainekonfliktes versucht, sich als Vermittler im Kaukasus zu positionieren. Allerdings war der Friedensplan derart stümperhaft vorbereitet, dass kein Mechanismus vorhanden war, der die beiden Parteien zur Umsetzung gezwungen hätte.
Das erlaubte es Aserbaidschan, nur das Element davon zu nehmen, das passte. Das ist die territoriale Integrität Aserbaidschans. Statt einer Selbstbestimmung für Bergkarabach sah der EU-Plan einen internationalen Mechanismus vor, der dafür sorgen sollte, dass die 120‘000 Armenier Bergkarabachs in ihrer Heimat in «Würde und Sicherheit» leben könnten. Dies konnte Alijew straflos missachten und durch einen Blitzkrieg vollendete Tatsachen schaffen.
Vermittler wie den Belgier Charles Michel, der den Türken und den Aseris damit weitere 120’000 Armenier praktisch ans Messer geliefert hat, würde man sich nicht wünschen! Und Michel schien auch noch vom Friedensnobelpreis geträumt zu haben.
Die Frage ist jetzt, ob Aserbaidschan weiterhin auf das Recht des Stärkeren setzt. Denn Alijew hat weitere Wünsche. Aserbaidschan fordert einen Korridor durch armenisches Gebiet, um seine Exklave Nachitschewan zu erreichen.
Auf den ersten Blick ist der Wunsch verständlich. Die Enklave kann bisher nur über iranisches Gebiet versorgt werden.
Der grosse Plan der Türkei
Auf den zweiten Blick scheint dieser Wunsch Teil eines grossen Planes der Türkei zu sein. Schon 1989 hat der damalige Präsident Turgut Özal eine Strategie konzipiert, der die Türkei als Brücke zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten sieht. Es geht dabei nicht mehr nur um Erdgas und Ressourcen, sondern auch und vor allem um geostrategische Machtpolitik.
Die Türkei ist daher heute nicht mehr nur ein einfaches NATO-Mitglied, sondern eine Mittelmacht, die sich nicht mehr von Washington befehlen lässt, wen sie zu boykottieren und mit wem sie zu handeln hat.
Während Europa russische Rohstoffe boykottiert, wird Aserbaidschan als Lieferant und die Türkei als Drehscheibe immer wichtiger. Gleichzeitig scheint es auch für Russland interessant zu sein, eigene Rohstoffe über die Türkei und dessen aserisches Brudervolk auf den Weltmarkt zu bringen. Deshalb hat auch der Kreml keinen Finger für das nominell mit Russland verbündete Armenien gerührt. Und wenn es um wirtschaftliche Interessen, Geopolitik und Strategie geht, dann werden ärmere Völker wie die Armenier wie Bauern auf dem Schachbrett geopfert – auch wenn sie demokratisch organisiert sind.
Das ist die heuchlerische Politik des Westens: In Bezug auf die Ukraine wird das Völkerrecht betont, im Kaukasus spielt es keine Rolle. Der direkte Bezug von russischen Rohstoffen wird boykottiert, über Aserbaidschan wird hingegen ein Fenster weit geöffnet, damit der indirekte Bezug weiterhin möglich ist – zu höherem Preis natürlich.
Eine direkte Landverbindung von Aserbaidschan nach dem an die Türkei angrenzenden Nachitschewan würde es der Türkei erlauben, den Landweg zwischen Europa und China zusammen mit seinen Turk-Brudervölkern praktisch komplett zu kontrollieren. Es würde eine wirtschaftlich, politisch und militärisch starke moslemische Staatengruppe entstehen. Nur die südarmenische Provinz Sangesur liegt noch wie ein Sperrriegel dazwischen.
«Dekadentes, heuchlerisches und käufliches» Europa
Erdogan und Alijew halten den Westen für dekadent, heuchlerisch und käuflich. Das Tragische ist, dass diese Einschätzung wohl zutrifft. In den vergangenen Jahrzehnten haben die beiden denn auch wiederholt auf Gewaltanwendung gesetzt – und sind immer davongekommen.
Im September 2022 griffen aserische Soldaten erstmals direkt armenisches Kerngebiet an und rückten bis nahe an die touristisch wichtige Stadt Dschermuk vor. Die Idee war wohl, westlich bis in die Enklave Nachitschwan vorzudringen und Armenien in zwei Hälften zu teilen. Es waren wohl Telefonanrufe aus Washington in Ankara und Baku, die dieses Vorhaben gestoppt haben. Eine kleine EU-Beobachtermission ist alles, was ein erneutes Aufflackern der Kämpfe verhinderte. Ein im Internet zirkulierende Video, das zeigt, wie aserische Soldaten eine armenische Soldatin auf bestialische Weise foltern und anschliessend ermorden, stammt aus diesem Angriff.
Auch der Iran sieht die Ambitionen der Türkei und seiner Verbündeten mit grossem Misstrauen. Das Land aktiviert alte Verbindungen nach Armenien und bezeichnet eine Veränderung des Status Quo in Südarmenien als rote Linie. Die Türkei, Russland und der Iran ringen also um Einfluss in der Region, insbesondere um Zugang zu wichtigen Transportwegen für Energieressourcen.
Armenien hingegen fordert die UNO auf, Friedenstruppen entlang der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan zu stationieren, und zwar Friedenstruppen, die genug stark sind, dass eine gewaltsame Schaffung eines Sangesur-Korridors für die Waffenbrüder in Ankara und Baku mit einem zu hohen Risiko verbunden wäre.
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