Ich musste an den einen meiner beiden Großväter denken, den ich nie kennengelernt habe, als ich zusammen mit meiner Kollegin und Partnerin Éva Péli am 11. Mai durch die Umgebung von Moskau fuhr. Wir saßen gemeinsam mit Viktor Lerch aus Selenograd sowie dessen Nichte und deren Mann im Auto und fuhren durch Orte und Wälder im Nordwesten der russischen Hauptstadt. Unser Ziel war zum einen das Kloster Nowo Jerusalem und zum anderen das Denkmal für die Ende 1941 bei der Verteidigung Moskaus gefallenen sowjetischen Soldaten.
Ich überlegte, ob mein Großvater als deutscher Soldat vor mehr als 80 Jahren auch in dieser Gegend gewesen war. Das weiß ich nicht. Mir ist nur bekannt, dass er als einer von 3,3 Millionen in der Uniform der faschistischen deutschen Wehrmacht als Angehöriger des Infanterie-Regiments 311 am 22. Juni 1941 von Ostpreußen aus in die Sowjetunion einmarschierte. Der Weg seiner Einheit führte nach Leningrad und von dort aus in den Süden der Sowjetunion, bis in das Gebiet der heutigen Ukraine. Dort wurde er in der Gegend von Kriwoi Rog Anfang 1944 als vermisst gemeldet und kehrte nie wieder zu seiner Frau und den vier Töchtern im ostpreußischen Bartenstein zurück.
Ob er auf dem langen Weg auch vor Moskau zum Einsatz kam, weiß ich nicht. Möglich ist es. Aber ich war auf der Fahrt durch die Umgebung der russischen Hauptstadt nicht auf der Suche nach Spuren meines Großvaters. Der von Wolgadeutschen abstammende Viktor Lerch hatte uns zwei Tage zuvor zu sich eingeladen, nachdem wir uns im Park des Sieges (Park Pobedy) in Moskau kennengelernt hatten. Dorthin waren Eva und ich am Nachmittag des 80. Jahrestages des Sieges der sowjetischen Armee über die faschistische Wehrmacht gegangen. Wir wollten sehen, wie die normalen Menschen diesen Tag begehen und unter ihnen sein.
Militärtechnik in einer der Zufahrtsstraßen zum Roten Platz kurz vor der Siegesparade am 9. Mai, voran der legendäre Panzer T-34 (alle Fotos: Tilo Gräser)
Am Vormittag des 9. Mai waren wir trotz Akkreditierung wie andere Journalisten bei dem Versuch gescheitert, die Siegesparade auf dem Roten Platz direkt beobachten und erleben zu können. Wahrscheinlich waren es die strengen Sicherheitsvorkehrungen, die dafür sorgten, dass nur eine relativ kleine Auswahl der mehr als 4000 angemeldeten Medienvertreter aus verschiedenen Ländern – auch einige wenige von westlichen Medien – die Möglichkeit bekam, die Parade aus der Nähe zu beobachten. Uns blieb mit vielen anderen nur der Großbildschirm im Internationalen Pressezentrum in der Ausstellungshalle «Manege».
Auch beim Zugang zum Park des Sieges gab es Sicherheitskontrollen, wenn auch nicht ganz so streng wie beim Pressezentrum. Die hielten aber die vielen Menschen aus Moskau, aus anderen Regionen Russlands und sogar aus anderen früheren Sowjetrepubliken wie beispielsweise Kasachstan nicht davon ab, diesen Tag zu feiern und der Opfer des Kampfes gegen den Faschismus zu gedenken. Das taten sie mit Fahnen und in historischen Uniformen, beim Hören der Konzerte auf der Bühne vor dem Areal des Museums des Sieges und beim Rundgang durch den Park mit seinen Skulpturen und Denkmälern, Ständen und Infotafeln.
Offenheit und Unvoreingenommenheit
Einer von ihnen war Viktor, der uns mit Soldatenkäppi sowie mit einem Schild mit dem Foto seines Onkels Michail M. Tokarew entgegenkam. Das Bild seines Onkels, der als sowjetischer Soldat bis Berlin kam, gehörte zu der Aktion «Unsterbliches Regiment», mit der der Gefallenen und Veteranen der sowjetischen Armee gedacht wird, die gegen den Faschismus kämpften. Auch in diesem Jahr war die Aktion als gemeinsamer Aufmarsch offiziell aus Sicherheitsgründen untersagt worden, aber viele Moskauer ließen es sich nicht nehmen, wie Viktor einzeln für sich mit Schildern an ihre Angehörigen zu erinnern.
Der heute 63-jährige Sohn eines Wolgadeutschen, in Kasachstan geboren, erzählte uns bereitwillig und freundlich von seinem Onkel ebenso wie von seinem eigenen Leben, seiner Sicht auf Russland und auf die Vorgänge in der Welt wie den Krieg in der Ukraine. Er hatte dabei auch keinerlei Probleme damit, mit zwei Journalisten aus Deutschland zu sprechen, wobei Eva aus Ungarn stammt und vor mehr als 20 Jahren in Moskau studiert hatte, was Sprachbarrieren schnell überwinden half. Solcher Offenheit und Unvoreingenommenheit begegneten wir immer wieder in den fast zwei Wochen in Moskau, so dass mir die in Deutschland grassierende Russophobie umso beschämender erscheint.
Viktor Lerch aus Selenograd bei Moskau
Viktor berichtete uns von den Verbesserungen des Lebens der Menschen in Russland in den letzten beiden Jahrzehnten, auch trotz Krieg und Sanktionen, und zeigte sich sicher, dass der Krieg in der Ukraine bald endet. Ihm war klar, dass Kräfte im Westen daran interessiert sind, dass der Krieg fortgesetzt wird, aber ebenso, dass deren Ziel, Russland zu schwächen, nicht erreicht wird. Stattdessen würden vor allem die Europäer sich selber schaden und schwächen, anstatt sich für Frieden einzusetzen. Am Ende lud er uns zu sich ein, als er erfuhr, dass wir noch weitere Tage in Moskau bleiben würden. Und am 11. Mai machten wir uns mit der Eisenbahn auf den Weg zu ihm nach Selenograd-Krjukowo, wo im Dezember 1941 die deutschen Truppen von der sowjetischen Armee gestoppt wurden.
Viktor zeigte uns, wo und wie er wohnt, sowie nach dem restaurierten Kloster Nowo Jerusalem auch das Denkmal für die Gefallenen. Er erzählte, dass in dem Massengrab die Toten beider Seiten ohne Unterschied lagen. Auf einer Tafel beim Denkmal erfuhren wir, dass 1966 die Überreste eines sowjetischen Soldaten von dort an die Kreml-Mauer in das Grabmal des Unbekannten Soldaten überführt wurden, wo seitdem zum Gedenken die Ewige Flamme lodert und wo auch wir während unseres Moskau-Aufenthaltes für einen Moment innehielten.
Die Begegnung mit Viktor erinnerte mich an diejenige ein Jahr zuvor mit Wassili aus Sankt Petersburg. Mit ihm waren wir ins Gespräch gekommen, als er am 9. Mai 2024 am Rande der Paradestrecke mit einem T-Shirt und Schildern an seine Verwandten erinnerte, die im Krieg gefallen waren. Auch er zeigte keinerlei Ressentiment gegenüber dem Enkel eines deutschen Soldaten, der 1941 mit in die Sowjetunion einmarschiert war, und sprach sich wie Viktor dafür aus, dass die Völker in Frieden miteinander leben und diesen bewahren.
Deutsche und Russen
Diesem Anliegen fühlten sich auch eine ganze Reihe Deutscher verpflichtet, die in mehreren Gruppen zum 9. Mai nach Moskau und in andere Städte wie Wolgograd, das frühere Stalingrad, St. Petersburg, das einstige Leningrad, oder nach Kaliningrad, das frühere Königsberg, reisten. So kam eine Gruppe von etwa 40 Bundesbürgern in die russische Hauptstadt, um zu zeigen, dass nicht alle Deutschen der politisch und medial angeheizten Russophobie in ihrem Land verfallen sind. Es waren vor allem Ostdeutsche, darunter ehemalige Offiziere der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Sie besuchten Gedenkstätten und Museen, trafen sich mit Vertretern des russischen Veteranenverbandes und diskutierten am 6. Mai bei einer Konferenz mit russischen Teilnehmern über die vor 70 Jahren gegründete Organisation des Warschauer Vertrages als Antwort auf die 1949 gegründete NATO.
Sie hörten dabei, dass der russische Generalmajor a.D. Juri Djakow den Behauptungen aus Kiew und aus dem Westen widersprach, dass Russland in der Ukraine gezielt zivile Ziele angreife. So wie die sowjetische Rote Armee vor mehr als 80 Jahren gegen die Faschisten kämpfte und nicht gegen Deutschland, kämpfe die russische Armee nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den dortigen Nazismus, aber auch «gegen Europa», so Djakow. Als der General anderen Rednern zuhörte, saß neben ihm ein Deutscher, der ein Schild hochhielt, auf dem auf Russisch stand «Ich schäme mich für Deutschland». Christiane Kranz aus dem thüringischen Gotha trug ein T-Shirt mit der Aufschrift in Russisch und Deutsch «Deutschland sagt Danke». Sie wolle sich damit für die Befreiung vom Faschismus bedanken, erklärte sie auf Nachfrage dazu. Ihr Herz schlage für das russische Volk, sagte sie, und dass die Heldentaten der Soldaten der Roten Armee niemals vergessen werden.
Isolde und Uwe Deutschmann
Isolde und Uwe Deutschmann aus Vogtsdorf in Mecklenburg-Vorpommern waren ebenfalls mit der Gruppe nach Moskau gekommen. Sie seien nicht das erste Mal in Russland, berichtete die ehemalige Russisch-Lehrerin. Auch mit ihren Schülern sei sie mehrmals in das große Land gereist. Mit dem Verein «Druschba-Global» würden sie inzwischen zwei-, dreimal im Jahr nach Russland fahren. Die geschürte russophobe, russlandfeindliche Atmosphäre in Deutschland finden die beiden «grauenvoll». Es sei schlimm, wie versucht werde, die Menschen gegen Russland zu indoktrinieren und zu manipulieren. Sie seien oft genug in dem Land gewesen, um zu wissen, dass nicht stimmt, was darüber erzählt wird. Immer seien sie von den russischen Menschen freundlich empfangen und nie angefeindet worden. Aber die Hetze in den Mainstreammedien, bis hin zu ARD und ZDF, würde bei vielen in Deutschland wirken.
Für die beiden aus Mecklenburg-Vorpommern war es wie für die anderen sehr wichtig, am 9. Mai, zum Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus, in Russland zu sein, den Tag dort zu erleben. General a.D. Djakow empfing die Gruppe am 8. Mai, als sie den Verband der russischen Veteranen besuchte. Zuvor hatte sie an dem Tag im Museum des Sieges mit dem General Anatoli Kisseljow einen Kranz niedergelegt. «Es gibt keine guten oder schlechten Völker», sagte der ehemalige Offizier und Vizevorsitzende des Verbandes, «nur gute oder schlechte Menschen». Er machte auf eine Besonderheit des russischen Nationalcharakters aufmerksam: Das Bedürfnis, anderen Ländern beim Aufbau zu helfen. Das sei auch nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen, obwohl die Sowjetunion selbst viele Zerstörungen erlitten und vieles wieder aufzubauen hatte.
General a.D. Juri Djakow
Djakow ist auch Leiter der militär-patriotischen Jugendbewegung «Junge Karbyschew-Leute», die den Namen des im KZ Mauthausen ermordeten sowjetischen Generals Dmitri Karbyschew trägt. «Wir bringen den Kindern in erster Linie bei, ihre Heimat zu lieben», erklärte der ehemalige General und fügte hinzu: «Wir bringen ihnen keine Kriegskunst bei.» Und sich an eigene Besuche unter anderem in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mauthausen in Österreich erinnernd, sagte Djakow: «Es ist unsere Aufgabe als Antifaschisten, nicht zuzulassen, dass sich so etwas wiederholt, dass wieder KZ entstehen, in denen Menschen zerstört werden.» Es müsse verhindert werden, dass noch einmal wie unter Hitler die Vernichtung ganzer Völker geplant und angestrebt werde.
Vergangenheit und Gegenwart
Der ehemalige Offizier ging bei dem Treffen erneut auf den Krieg in der Ukraine ein. Er wiederholte, dass es Lügen seien, wenn im Westen behauptet werde, die russische Armee greife friedliche Städte an und töte gezielt Zivilisten. Schon im Zweiten Weltkrieg habe die sowjetische Armee anders als ihre westlichen Alliierten nie gezielt Städte bombardiert und zerstört. Stalin habe sogar den Befehl ausgegeben, die Städte mit ihrer historischen Architektur zu schützen und zu bewahren.
Generaloberst a.D. Witali Asarow
Auch der Verbandsvorsitzende, Generaloberst a.D. Witali Asarow, ging bei dem Treffen mit der deutschen Gruppe von sich aus auf den Krieg in der Ukraine ein und bezeichnete ihn als «schwierig». Er zeigte sich sicher, dass Russland am Ende gewinne, aber: «Wir kämpfen gegen unsere Brüder und das stoppt uns in vielen Zusammenhängen.» Der Krieg sei deshalb so schwierig, weil auf der anderen Seite der Front oftmals Offiziere kämpften, die dieselben einstigen sowjetischen Militärakademien durchlaufen hätten. «Abgesehen von den Lieferungen von ausländischen Waffen, kämpfen wir mit gleichen Waffen und gemäß den gleichen Militärstatuten, die wir in gleichen Akademien studiert haben.»
Die Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zeige, was Menschen schaffen können, wenn sie höheren Werten wie denen der Freundschaft und des Friedens folgen, so der Ex-General. Den deutschen Gästen sagte er, dass ihr Besuch zum Tag des Sieges und das Interesse an der sowjetischen und russischen Geschichte der «beste Nachweis» dafür seien, «dass wir an eine bessere Zukunft glauben. Dass unsere Kinder und unsere Enkelkinder sich einander die Hände reichen als Freunde und als Brüder.»
Die deutsche Gruppe mit ihren Gastgebern vom russischen Veteranenverband
Fortsetzung folgt