Es waren die beschriebenen Begegnungen und Erlebnisse, die die deutschen Russlandfahrer mit nach Hause nahmen und ihnen immer in Erinnerung bleiben werden. Dazu gehörte auch meine eigene Begegnung mit Wassili, einem etwa 60-jährigen Petersburger, am 9. Mai.
Er erinnerte als Mitglied des «Unsterblichen Regiments» am Rand der aus Sicherheitsgründen weiträumig abgesperrten Siegesparade mit zwei Schildern und einem T-Shirt an die vier Großväter der Familie, die im Krieg gegen den Faschismus 1942 und 1943 fielen. Der eine Großvater von mir war als deutscher Soldat aus Ostpreußen am 22. Juni 1941 mit in die Sowjetunion einmarschiert und später mit seiner Einheit auch an der Blockade von Leningrad beteiligt. Er kam aus dem Krieg nicht wieder nach Hause und wurde Anfang 1944 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine als vermisst gemeldet.
Wir erzählten uns mit Hilfe von Éva Péli, meiner sprachkundigen Begleiterin, von unseren Großvätern. Wassili sagte, dass Krieg immer nur wegen Geld und Rohstoffen geführt werde. Es gehe nie um die Interessen der einfachen Menschen, die in Frieden leben wollen.
Wassili (rechts) aus St. Petersburg mit dem Autor (Foto: Éva Péli)
Der Kampf gegen die Faschisten sei richtig, aber wenn Russen auf Russen schießen, sei das nicht gut, sagte er mit Blick auf das Geschehen in der Ukraine. Er berichtete auch von der Sorge um seinen Sohn, der als Offizier in der russischen Schwarzmeer-Flotte dient. Beim Abschied umarmten wir uns, die beiden Männer aus Russland und Deutschland, und wünschten uns gegenseitig Gesundheit sowie immer einen «мирное небо», einen «friedlichen Himmel».
Das «Unsterbliche Regiment» ist eine im russischen Tomsk 2012 entstandene nichtstaatliche Initiative und besteht aus Menschen, die jeweils am 9. Mai mit den Fotos ihrer gefallenen Verwandten an deren Kampf als Soldaten der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg erinnern. Wie im Vorjahr wurde das auch diesmal in St. Petersburg wie auch in Moskau abgesagt, nachdem in den Jahren zuvor bis zu einer Million Menschen daran teilgenommen haben sollen.
Wie in den Jahren der Corona-Krise und 2023 wurde dieses Gedenken nur online zugelassen, offiziell aus Sicherheitsgründen. Eine solche Menschenansammlung wäre vermutlich ein ideales Ziel für befürchtete Anschläge nicht nur im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.
Überhaupt gab es in St. Petersburg erhöhte Sicherheitsvorkehrungen, so durch Personen- und Gepäck-Scanner an Bahnhöfen, Einkaufszentren und selbst am Zugang zum Piskarjowskoje-Friedhof. Am 9. Mai wurden die Seitenstraßen zum Newski-Prospekt mit Fahrzeugen der Stadtreinigung verbarrikadiert, um mögliche Durchbrüche zu verhindern. Überall war neben Polizei auch die Rossgwardia, die Nationalgarde, zu sehen.
Das geschah wahrscheinlich in Folge des Anschlages in Krasnogorsk bei Moskau am 22. März. Am 3. April 2017 hatte ein Selbstmordattentäter in St. Petersburg viele Menschen mit in den Tod gerissen und verletzt. Auch danach gab es Anschläge in der Stadt, unter anderem 2023 gegen einen Militärblogger.
Bewohner der Stadt erinnerten an ihre im Krieg gegen die deutschen Faschisten gefallenen Angehörigen (Foto: Tilo Gräser)
Dennoch waren an dem Tag immer wieder Menschen zu sehen, die wie Wassili die Fotos ihrer gefallenen Verwandten mit sich trugen. Welche Bedeutung der 9. Mai für die meisten Menschen in Russland bis heute hat, zeigte sich auch, als im «Park des Sieges» eine Gruppe junger Offiziersschüler einer Überlebenden der faschistischen Blockade Blumen überreichten.
Zum Programm der Gruppe aus Deutschland gehörte neben dem Besichtigen der beiden Städte und den Treffen mit politisch Gleichgesinnten sowie den Studenten auch das reichhaltige Kulturangebot der Stadt an der Newa: vom Rundgang in der «Eremitage» über einen Abend mit dem Bolschoi-Ballett aus Moskau und einem mit der Aufführung der Oper «Die Liebe zu den drei Orangen» von Sergej Prokofjew im Mariinski-Theater bis zu Besuchen in verschiedenen der zahlreichen Kunst- und Geschichtsmuseen der Stadt an der Newa.
Dabei beobachteten sie, dass Menschen von Jung bis Alt die kulturellen Angebote nutzten. Zugleich war erkennbar, dass sich wohl eher nur die wohlhabenden Petersburger Karten für die Oper, das Ballett oder das Theater leisten können angesichts von relativ hohen Eintrittspreisen.
Auch der Besuch auf dem legendären Panzerkreuzer «Aurora» war im Programm der deutschen Russlandfahrer. Das Schiff hatte am 25. Oktober 1917 (nach altem russischem Kalender) mit seiner Bugkanone den Startschuss zu den Ereignissen gegeben, die seitdem als Oktoberrevolution bekannt sind. Es ankert seit 1948 bis heute dort, wo die Bolschaja Newka und die Newa sich gabeln, und ist weiterhin ein Publikumsmagnet für alle, die nach St. Petersburg kommen, selbst bei eher unfreundlichem Wetter wie an dem 10. Mai 2024.
Der legendäre Panzerkreuzer «Aurora» (Foto: Éva Péli)
Einer der diensthabenden Matrosen der Baltischen Flotte auf dem Schiff fragte eine Teilnehmerin aus der deutschen Gruppe, woher sie kommen. Er sammele die Länder, aus denen die Besucher stammen, berichtete er und zählte eine lange Reihe auf, die er in der ersten Hälfte seines einjährigen Militärdienstes zusammengetragen hatte. Dabei war von den führenden westlichen Ländern nur Großbritannien und nun kam das erste Mal Deutschland hinzu. Auch ein anderer Matrose auf der «Aurora» nahm das mit Interesse zur Kenntnis und freute sich darüber, als er die Frage nach dem ersten revolutionären Schuss beantwortete.
Historiker Kopp fiel am Beispiel des symbolträchtigen Panzerkreuzers auf, wie die Zeit der Oktoberrevolution und der Sowjetunion «in ein Gesamtbild der großen russischen Geschichte» eingebunden wird. Das gelte auch für die Geschichte des Widerstandes gegen den faschistischen deutschen Vernichtungskrieg. Diese Zeit von 1917 bis 1991 werde mit Ausnahme des Sieges vom 9. Mai 1945 nicht besonders hervorgehoben, aber auch nicht negiert oder abgestempelt, schätzte er ein.
Davon zeugen auch die mindestens drei Lenin-Statuen vor dem Smolny, dem Finnländischen Bahnhof und einem anderen ehemals sowjetischen Gebäude am Moskowskii-Prospekt in St. Petersburg.
«Das unterscheidet sich zum Beispiel von Umgang mit der DDR-Geschichte in der heutigen Bundesrepublik, die ja total negativ dargestellt wird.»
Wie lebendig die Ideen und Vorstellungen aus der sowjetischen Zeit bis heute selbst bei jungen Menschen sind, zeigte eine Begegnung am Abend des letzten Tages der Reise, dem 13. Mai, in Kaliningrad. Einer der jungen Menschen auf den Straßen von ihnen kam Éva Péli und mir am letzten Abend auf einem elektrischen Einrad entgegen und machte Halt, als er das Georgs-Band an meiner Jacke sah.
Die Lenin-Statue an historischem Ort vor dem Finnländischen Bahnhof in St. Petersburg (Foto: Tilo Gräser)
Es folgte etwas wie ein Vortrag über die Geschichte des Bandes, über den Sieg der sowjetischen Armee über die deutschen Faschisten, der ein Sieg aller Völker der Sowjetunion, nicht nur Russlands, war, über die Politik und Demokratie ebenso wie die eigentliche Rolle der Polizei als Diener der Gesellschaft, nicht der Mächtigen, und noch manches mehr. Der 2. Weltkrieg sei ein Krieg des Kapitalismus gegen den Sozialismus gewesen, erklärte er mir.
Und er, der sich als «Komsomoljez» (Kosmomolze) bezeichnete, zeigte, dass er die Gegenwart ebenfalls richtig versteht: So erklärte er uns, dass die Corona-Politik nur den Pharma-Unternehmen half, die Profite zu sichern, indem sie die Menschen zwang, sich unbekannte Stoffe spritzen zu lassen, was er selbst für sich ablehnte. Als wir uns dann kurz danach noch einmal sahen und ich ihm sagte, dass ich aus Deutschland komme und seine Sicht auf die Welt teile, freute er sich. Er sagte noch, dass er sich «Che Guevara» nenne, bestellte den Kommunisten in der Gruppe Grüße und wandte sich dann wieder seinen Freunden zu, mit denen er sich auf dem Platz des Sieges von Kaliningrad getroffen hatte.
Diese Begegnung war ein Beispiel für die Offenheit der Menschen in Russland, wie sie die Reiseteilnehmer mehrfach erlebten. Alle von ihnen wussten von solchen und ähnlichen Begegnungen zu berichten, von der Offenheit und Herzlichkeit, ebenso von der Hilfsbereitschaft der Menschen in den beiden russischen Städten. Das zeigte sich auch immer wieder, wenn jene aus der Gruppe, die kein Russisch konnten, in manchen Situationen, ob im Bus oder beim Einkaufen, nicht weiterwussten und ihnen die Russen halfen.
Die Statue des Schriftstellers Alexander Puschkin vor dem Russischen Museum in St. Petersburg (Foto: Éva Péli)
Günter Klein, Rentner aus Stuttgart, war beeindruckt von einer «sehr kulturvollen Bevölkerung von Jung bis Alt», die kein Interesse an der Konfrontation habe, wie sie der Westen gegenüber Russland schüre, und erst recht nicht an einem Krieg. Davon wolle er nach der Reise in Deutschland ebenso berichten wie davon, dass Russland in der Ukraine einen Verteidigungskrieg führe. Und er wolle vermitteln, «dass das, was von Regierungsseite bei uns dazu gesagt wird, einfach nicht stimmt, dass man sich dagegen wehren muss».
Seine Begleiterin Christa Hourani wies daraufhin, es sei wichtig, gegen die russlandfeindlichen Vorurteile aktiv zu werden, «die ganz bewusst mit einer politischen Absicht bei uns verbreitet werden». Sich an das von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock 2022 verkündete Ziel erinnernd, Russland ruinieren zu wollen, zeigte sich Günther Klein «froh, dass das, nach dem, was ich hier gesehen habe, auf jeden Fall nicht gelungen ist».
Einige der deutschen Russland-Fahrer am letzten Tag in Kaliningrad (Screenshot des Videoberichtes von kaskad-tv)
«Die Völker wollen einfach keinen Krieg, also die russischen Völker nicht, genauso wenig wie die Franzosen oder eigentlich auch die Deutschen».
So fasste Uwe Erler seine Erfahrungen und Beobachtungen zusammen. Der aus dem sächsischen Pirna stammende und seit etwa 30 Jahren in Winnenden (Baden-Württemberg) lebende Informatiker hatte sich in St. Petersburg auch mit Freunden getroffen, die er schon von vorherigen Reisen nach Russland kannte.
Er machte darauf aufmerksam, dass der Blick hinter die Fassaden wichtig ist, um das Land und die Menschen kennenzulernen. Zugleich ist er immer noch beeindruckt von der «großen Freundschaft der Russen zu uns», die ihm «manchmal etwas peinlich» sei, «wenn man sieht, was so durch unsere Vorfahren angerichtet wurde».
Christa Weber beim Treffen mit den Studenten am 8. Mai (Foto: Tilo Gräser)
Die Schauspielerin Christa Weber gab ihre Eindrücke am Ende der Reise so wieder:
«Wir haben wunderbare Menschen kennengelernt, die uns ohne Ressentiments entgegengekommen sind, stolze, aufrechte, hilfsbereite, humorvolle, aufgeschlossene Menschen, die sich bei uns bedankten, dass wir sie besuchten. Sie bei uns! Oftmals beschämte mich ihre große Gastfreundschaft, wenn ich an die Russophobie dachte, die derzeit bei uns zu Hause herrscht.»
Ähnlich wie die anderen Mitglieder der Gruppe sagte sie, sie wolle sich «jetzt noch leidenschaftlicher dafür einsetzen, dass unsere Politiker und die Drahtzieher dahinter, es nie wieder schaffen, uns gegen die Russen aufzuhetzen. Nie wieder dürfen Deutsche bereit sein, gegen dieses großartige Volk in den Krieg zu ziehen.»
Teil 1 und 2 sind hier und hier zu lesen.
geändert 4.6.24; 22:19
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