Aserbaidschan macht diese Woche Schlagzeilen. In allen Medien wird ausführlich über die COP 29 berichtet, die sich um die Finanzierungen für den Klimaschutz und die nationalen Klimaziele dreht. Die Konferenz wird von geopolitischen Spannungen überschattet, insbesondere in Bezug auf Aserbaidschans Rolle als Öl- und Gasproduzent. Allenfalls wird noch darüber berichtet, dass Spitzenpolitiker wie Olaf Scholz ihre Teilnahme abgesagt haben. Der deutsche Kanzler hat andere Prioritäten.
Keine Schlagzeilen macht aber der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Ein Jahr nach der militärischen Eroberung von Bergkarabach durch die aserische Truppen ist die kulturelle und religiöse Landschaft der Region unaufhaltsam im Begriff, ausgelöscht zu werden (wir berichteten zum Beispiel hier, weitere Links im Beitrag). Was einst eine Hochburg armenischer Kultur war, verwandelte sich in einen Schauplatz der Zerstörung und Verdrängung. Besonders auffällig ist die Vernichtung von historischen und religiösen Stätten, die seit Jahrhunderten das Erbe der Armenier widerspiegeln.
Ein Beispiel ist die Zerstörung der Surb-Hambardzum-Kirche in Berdzor, eine der ältesten armenischen Kirchen in der Region. An ihrer Stelle errichtet Aserbaidschan eine Moschee. Diese symbolische Geste steht stellvertretend für eine umfassendere Strategie zur Verdrängung der armenischen Identität aus dem Gebiet. Tausende von jahrhundertealten armenischen Kirchen, Klöstern und Friedhöfen werden abgerissen oder entweiht. Die Geschichte eines Volkes wird so Stück für Stück ausradiert.
Im September 2023 flohen mehr als 100.000 Armenier aus Bergkarabach, als die aserbaidschanische Armee die Region in einem zweiten Angriffskrieg nach 2020 komplett eroberte. Sie berichten von der gewaltsamen Umgestaltung ihrer Heimat. Nach der Eroberung von Stepanakert, der Hauptstadt der Region, wurden dort armenische Symbole entfernt, Straßen umbenannt und wichtige Wahrzeichen zerstört. Der Name der Stadt wurde in Xankendi geändert – ein weiterer Versuch, die armenische Präsenz in der Region zu tilgen. Was Aserbaidschan tut, ist nicht nur eine militärische, sondern auch eine kulturelle Vertreibung.
«Wir sind Zeugen einer Um-Schreibung der Geschichte», sagt Craig Simonian, ein christlicher Aktivist und Regionalkoordinator der Weltweiten Evangelischen Allianz. Die armenische Kultur wird absichtlich ausgelöscht. Es werden alte Klöster und Friedhöfe zerstört, die jahrhundertealte Zeugnisse unserer Geschichte sind. Und das wird unter den Augen der Weltgemeinschaft getan.»
Man müsste aber wohl eher sagen: Geschichtsfälschung. Besonders auffällig ist, dass die aserischen Behörden ihre Bemühungen um die Umdeutung der Geschichte mit neuen Propagandamaßnahmen verstärken. Ein neu gegründeter Fernsehsender sendet regelmäßig Programme, die den Anspruch erheben, Bergkarabach sei immer schon aserbaidschanisch gewesen. Währenddessen verwandeln die Behörden armenische Kirchen in Moscheen oder reißen sie ab. Die «Kathedrale des Heiligen Erlösers», eines der bedeutendsten religiösen Wahrzeichen der Region, die bereits durch Artilleriebeschuss beschädigt wurde, ist ein weiteres Beispiel für die zerstörerischen Veränderungen, die jetzt auch die Identität der Region prägen.
Die Zerstörung von Stepanakert ist ein trauriges Spiegelbild dieses kulturellen Auslöschungsprozesses. In der ehemaligen Hauptstadt wurden nicht nur staatliche Gebäude, sondern auch zivile Infrastruktur und religiöse Stätten zerstört. Geschäfte und Hotels wurden entweder dem Erdboden gleichgemacht oder mit neuen aserbaidschanischen Symbolen versehen. Sportstadien wurden umgestaltet, um die aserbaidschanische Flagge zu repräsentieren, und Straßennamen wurden geändert, um die Verbindung zu historischen Figuren wie Enver Pascha herzustellen – besonders geschmacklos, da es sich um einen der Architekten des armenischen Genozids von 1915 handelt.
Die internationale Gemeinschaft steht dieser Entwicklung tatenlos gegenüber. Politiker wie der niederländische Politiker Leen van Dijke, der sich in Armenien für die Opfer der Konflikte einsetzt, kritisieren die Zurückhaltung der westlichen Welt:
«Die EU steht zögerlich an der Seite Aserbaidschans, weil sie politische und wirtschaftliche Interessen verfolgt. Die EU-Kommission hat Gasgeschäfte mit Aserbaidschan ausgehandelt und bezeichnet Ilham Aliyev, den aserbaidschanischen Präsidenten, als verlässlichen Partner. Diese Partnerschaft darf nicht durch Kritik an den Verstößen gegen die Menschenrechte gefährdet werden.»
Das Fehlen einer entschlossenen Reaktion der internationalen Gemeinschaft ist nicht nur eine diplomatische Farce, sondern auch ein moralisches Versagen. Die Zerstörung der armenischen Kultur in Bergkarabach ist ein Akt, der nicht nur die Geschichte eines Volkes vernichtet, sondern auch eine drohende kulturelle Auslöschung darstellt, die nicht nur die Armenier betrifft, sondern das gesamte christliche Erbe in der Region. Das Schweigen der Welt – so warnen Beobachter – führt dazu, dass dieses Unrecht ungehört bleibt.
«Wenn niemand hinschaut, wird niemand wissen, was hier passiert, und wenn niemand weiß, wird auch niemand für uns beten», sagt Craig Simonian, der die dramatischen Veränderungen vor Ort erlebt hat. «Beten ist entscheidend, und wir hoffen, dass die Welt nicht länger wegschaut.»
Für die Armenier, die nach dem Ende des Sowjetstaates in Bergkarabach ihre jahrhundertelange kulturelle und religiöse Identität vorerst bewahren konnten, scheint dieses Gebiet nun verloren. Die letzten Reste eines alten armenischen Erbes werden durch die Aseris vernichtet, während in Baku ein Schaufenster zur Welt eingerichtet wurde. Doch während der kulturelle Genozid weitergeht, bleibt die Frage offen: Wie lange wird die Welt noch schweigen? Und es bleibt unklar, wie der internationale Druck auf Aserbaidschan ausgeübt werden kann, um eine Wiederholung der tragischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts zum Beispiel in Südarmenien zu verhindern.
Eine Ausnahmen von dieser Strategie des Wegschauens ist der Schweizer Nationalrat Erich Vontobel von der kleinen Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU). Er setzt sich mit einer Interpellation und Motion im Rat für den Schutz der armenischen Christen und die Rückkehr der aus Bergkarabach Vertriebenen ein. Im September 2024 reiste er nach Armenien, wo er mit der armenischen Bevölkerung und Vertriebenen aus Bergkarabach sprach.
Vontobel war von den politischen und sozialen Spannungen in Armenien tief beeindruckt. Insbesondere beunruhigte ihn die Spaltung zwischen den alteingesessenen Armeniern und den mehr als 100.000 Vertriebenen aus Bergkarabach. Er kritisiert, dass die armenische Regierung wenig unternimmt, um die Rückkehr der Vertriebenen zu fördern, aus Sorge, Aserbaidschan zu verärgern. Dies könnte jedoch langfristig zu weiteren Spannungen führen, falls sich Aserbaidschan ermutigt fühlt, im südlichen Armenien eine neue Front zu eröffnen, um eine direkte Verbindung zu seiner Enklave Nachitschewan zu schaffen. Würde das gelingen, wäre der armenische Sperrriegel gebrochen, der bisher verhindert, dass die Türkei und ihr Verbündeter in Baku eine grosse Gruppe von moslemischen Turkvölker-Staaten bildet, die von den Grenzen Chinas bis nach Europa führt.
Vontobel fordert hingegen eine klare Positionierung und politische Unterstützung für die Rückkehr der Bergkarabach-Armenier. Er ist überzeugt, dass eine friedliche Lösung für Bergkarabach möglich ist, wenn ein Kompromiss erreicht wird. Er schlägt vor, ein weitgehend selbstverwaltetes Bergkarabach zu schaffen, das den Vertriebenen eine sichere Rückkehr ermöglicht, vorausgesetzt, die Rückkehrer können in Frieden leben und internationalen Schutz genießen.
Dies könnte nicht nur zu einer Entspannung der Situation im Kaukasus führen, sondern auch im globalen Kontext positive Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz mit Aserbaidschan haben. Vontobel setzt sich mit seiner politischen Arbeit dafür ein, dass die Schweiz eine aktive Rolle in der Förderung eines Friedensprozesses einnimmt. Durch die Unterstützung der Motion «Friedensforum für Bergkarabach» hofft er, die internationale Gemeinschaft auf die humanitären und politischen Herausforderungen in der Region aufmerksam zu machen und einen Dialog zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, bevor sich das Zeitfenster für eine Lösung schließt.
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