Seitdem die UNO-Charta am 26. Juni 1945 unterzeichnet wurde, sei das darauf basierende Völkerrecht zu einem «Steinbruch» gemacht worden. Das erklärte die ehemalige Bundestagsabgeordnete und heutige außenpolitische Expertin der Partei Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) Sevim Dagdelen am Montag in Berlin. Eine große Rolle spiele dabei die NATO, betonte sie.
Dagdelen kritisierte den Beschluß der NATO-Staaten auf dem jüngsten Gipfel des westlichen Militärbündnisses in Den Haag, ihre Rüstungs- und Militärausgaben auf fünf Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu steigern. Das sei der «größte Angriff auf den Sozialstaat in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg».
Das bedeute die Verdopplung der Militärausgaben der NATO-Staaten auf bis zu drei Billionen US-Dollar jährlich bis 2035. Das westliche Bündnis gebe damit mehr Geld für Rüstung und Militär aus als der Rest der Welt.
Sevim Dagdelen am 30. Juni in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Die langjährige Bundestagabgeordnete (erst Linkspartei, dann BSW) sprach in Berlin auf einer Veranstaltung ihrer Partei gemeinsam mit dem ehemaligen UNO-Diplomaten Michael von der Schulenburg, der für das BSW im EU-Parlament sitzt, und dem Friedensaktivisten Reiner Braun sowie Ina Darmstädter vom BSW. Anlass waren der 80. Jahrestag der Verabschiedung der UNO-Charta und die heute zunehmende Kriegsgefahr.
Sie verwies insbesondere auf Artikel 2 der Charta, der die souveräne Gleichheit aller Mitgliedstaaten, die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten und das Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt vorschreibt. Es sei selbstverständlich, dass die Charta keine Waffenlieferungen vorsehe und dass danach sogenannte «Regime-Change-Pläne» einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen. Die BSW-Politikerin kritisierte, dass die Prinzipien der Charta heute zunehmend ausgehöhlt würden und das Völkerrecht zu einem «Steinbruch» verkommen sei.
Dagdelen hatte im vergangenen Jahr das Buch «Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis» veröffentlicht. Darin setzt sie sich ausführlich mit der die Rolle des westlichen Militärbündnisses auseinander.
«Größter Angriff auf Sozialstaat»
Dagdelen warnte eindringlich vor den Folgen dieser massiven Aufrüstung durch die NATO:
• Sie bezeichnete sie als den «größten Angriff auf den Sozialstaat in Europa» seit dem Zweiten Weltkrieg, da sie unweigerlich zu drastischen Kürzungen in Bereichen wie Rente, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur führen werde.
• Die Aufrüstung werde ein gefährliches Wettrüsten nach sich ziehen.
• Die daraus resultierende Verschuldung werde künftige Generationen belasten und historische Sozialkürzungen zur Folge haben.
Sie widersprach jüngsten Aussagen von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) deutlich und bezeichnete die Begründung, die neue «russische Gefahr» mache die Aufrüstung notwendig, sowie den Verweis der Aufrüstungsbefürworter auf frühere Militärausgaben in den 1960er und 1970er Jahren als «nostalgisch» und «grundfalsch». Die Situation im Kalten Krieg sowie die damaligen wirtschaftlichen Wachstumsraten und die Größe der NATO seien nicht mit der heutigen Situation vergleichbar.
«Der Verweis auf diese Vergangenheit ist also grundfalsch und verklärt eben auch eine Aufrüstung heute, die wie im Faschismus eigentlich nur in einem Raubkrieg münden kann, wenn man so stark aufrüstet.»
Die BSW-Politikerin hob hervor, dass sich die Welt grundlegend verändert habe und die NATO einer veralteten Denkweise verhaftet sei. Davon künde der Aufstieg des sogenannten Globalen Südens, insbesondere der BRICS-Staaten. Diese würden mittlerweile 40 Prozent des weltweiten BIP ausmachen, während die G7-Staaten nur noch 29 Prozent der Weltwirtschaft repräsentierten.
Der Versuch, BRICS-Staaten von Schlüsseltechnologien abzuschneiden, sei zum Scheitern verurteilt, da China in vielen Bereichen weltweit führend sei. Dagdelen befand, dass sich die NATO «zugrunde rüstet». Das westliche Militärbündnis sei eine «neokoloniale Allianz» mit einer «eklatanten Doppelmoral», die anderen Staaten vorschreibe, was sie zu tun haben. Als Beispiel nannte sie den Umgang mit dem Iran, dem ein ziviles Atomprogramm verwehrt werde, während Atomwaffen in der Region bei Verbündeten wie Israel geduldet würden.
«Wie groß ist die Gefahr?»
Es gebe weltweit zunehmenden Widerstand gegen die Politik des Westens, der sich selbst im Niedergang befinde. Dagdelen fragte:
«Wenn der Widerstand wächst gegen eine Herrschaft, die sich selbst überlebt hat, wie groß wird die Gefahr sein? Wie groß ist die Gefahr, dass man beim Niedergang der globalen US-Hegemonie zu den äußersten Mitteln greifen wird, um halten zu können, was nicht mehr zu halten ist?»
Die BSW-Außenpolitikerin widersprach der offiziellen Erklärung, wonach die forcierte Aufrüstung von NATO und EU der Verteidigung diente. Es handele sich dagegen um «Kriegsvorbereitung», um die globale Hegemonie der USA zu erhalten. Sie warnte davor, Geheimdienstinformationen als Kriegsgrund zu missbrauchen, und verwies auf historische Präzedenzfälle wie die Affäre «Curveball».
So hatte der Deutsche irakischer Herkunft Rafid Ahmed Alwan, der vom US-Militärgeheimdienst DIA den Decknamen «Curveball» erhielt, nach seiner Ankunft in Deutschland im Jahre 1999 gegenüber dem BND behauptet, an irakischen Programmen zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen beteiligt gewesen zu sein. Die Falsch-Aussagen Alwans wurden dann von der Bush-Regierung als Begründung für den Irakkrieg herangezogen.
Nachdem der Bundesnachrichtendienst (BND) damals mit falschen Informationen einen Krieg beförderte, der ein Land zerstörte und mehr als eine Millionen Menschen tötete, behaupte er nun, Russland greife in den nächsten Jahren die NATO an, so Dagdelen. «Ich finde, wir sollten uns nicht nochmal auf solche Kriegslügen reinfallen», betonte Dagdelen.
Abschließend betonte sie, dass die erzwungenen fünf Prozent Militärausgaben die Souveränität der NATO-Mitgliedsstaaten in ihrer Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik untergraben würden. Damit sei die Verarmung der Bevölkerung vorprogrammiert.
Sie verwies auf den Druck, der auf Länder wie Spanien und die Slowakei ausgeübt wurde, um das Fünf-Prozent-Ziel zu akzeptieren. Anders als in Deutschland sei der regierenden Politik in Spanien klar, was die NATO-Forderung bedeute, die dort zu einer Verdreifachung der Militärausgaben führe.
«Es bedeutet tabula rasa mit dem Sozialstaat.»
Auch die slowakische Regierung habe das Fünf-Prozent-Ziel als «absurd» bezeichnet, aber aufgrund des starken Drucks dann doch zugestimmt. Das bedeute, dass es keine Souveränität in den Ländern gebe, um eine eigene Politik zu machen. Es gehe um Souveränität in Sachen Haushaltsführung, Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Sozialpolitik, die durch die Aufrüstung der NATO verhindert werde.
Für Neutralität und Souveränität
Für Dagdelen ist der Weg zu einer mit der UN-Charta vereinbaren Politik auch in Deutschland nur über Neutralität und demokratische Souveränität zu erreichen. Nur so sei es möglich, «friedlich, demokratisch und auch souverän» zu sein. Sie plädierte für eine «demokratische Erneuerungsbewegung, die sich für ein bezahlbares, friedliches, aber auch neutrales Deutschland» einsetzt.
Die Veranstaltung hatte Ina Darmstädter vom BSW eingeleitet. Sie prangerte die Missachtung der UN-Charta und den Mangel an Empathie in der Weltpolitik an. Sie betonte, dass die ursprünglichen Prinzipien von Frieden und Gerechtigkeit durch historische Ereignisse und aktuelle Entwicklungen untergraben worden seien.
Darmstädter forderte zum Beispiel einen «Charakterführerschein» für Politiker und Wirtschaftsführer und rief dazu auf, dass «sozial veranlagte Menschen» mehr Führungspositionen übernehmen sollten. Sie appellierte: «Runter von der Yogamatte und rein ins Parlament!»
Sie sprach sich außerdem für «weltweite Friedensministerien» und einen «UN-Friedensrat» zur Beilegung von Konflikten aus. Wobei sie übersah, dass es seit 1950 den Weltfriedensrat gibt, der immer noch existiert und arbeitet. Das unabhängige Gremium entstand kurz nach dem zweiten Weltkrieg aus der Weltfriedensbewegung und wurde lange Zeit als «kommunistisch» diffamiert.
Darmstädter schloss mit dem Aufruf, sich für ein «Forum für Frieden und Völkerrecht» einzusetzen und die Grundprinzipien der UNO-Charta – Gewaltfreiheit, Frieden, Gerechtigkeit und kollektive Sicherung – wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Friedensaktivist Braun bezeichnete auf der Veranstaltung in Berlin die Stärkung der Friedensbewegung in Deutschland und Europa als «Kernaufgabe».
Am 3. Oktober gebe es in Deutschland eine große Demonstration und weitere Aktionen für Frieden, kündigte er an. Zugleich erinnerte Braun an die Aussage von Willy Brandt, wonach Deutschland nur noch von «Freunden» umgeben sei. Deshalb sei aus seiner Sicht nicht klar, gegen wen sich die Bundesrepublik Deutschland verteidigen müsse.
Martin Hantke, Koordinator des BSW in Berlin-Mitte und Moderator an dem Abend, bezeichnete die Veranstaltung als eine Anti-Kriegs-Manifestation. BSW-Parlamentarier von der Schulenburg schloss die Veranstaltung optimistisch: Wenn der Westen sich der Charta verschreibe, würde er die Mehrheit der Welt auf seine Seite bringen.