Die bundesdeutsche Regierung verhindert nach Aussage des Friedensforschers und -aktivisten Lühr Henken eine friedliche Lösung des Krieges in und um die Ukraine. Sie halte stattdessen unbeirrt an Waffenlieferungen an Kiew fest und beschleunige ihren Hochrüstungskurs «in bisher unbekanntem Ausmass».
Das erklärte Henken am 1. Oktober beim Plenum der
Friedenskoordination Berlin (Friko). Die Gruppe gibt es seit 1980 und entstand nach eigener Aussage aus Protest gegen den sogenannten Nachrüstungsbeschluss der NATO, der Stationierung der US-Erstschlagwaffen Pershing II und Cruise Missiles in der BRD.
Die Friko gehört zur klassischen Friedensbewegung der Bundesrepublik und trifft sich regelmässig zu Veranstaltungen und Demonstrationen. Auf ihrem jüngsten Plenum sprach Henken über den Zusammenhang zwischen dem Krieg in der Ukraine und der bundesdeutschen Aufrüstung.
Die wird mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ab dem 24. Februar 2022 begründet. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – angeblich überrascht vom russischen Vorgehen – verkündete daraufhin am 27. Februar 2022 eine «Zeitenwende» mit 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr.
Im Juni dieses Jahres erklärte er, dass ab 2024 jährlich zwei Prozent des deutschen Bundesinlandsproduktes (BIP) für das Militär ausgegeben werden sollen. Das hatte die NATO schon 2014 beschlossen und von ihren Mitgliedern gefordert, bisher ohne grosse deutsche Bereitschaft dazu.
Friedensforscher Henken machte auf dem Friko-Plenum auf die Folgen aufmerksam. Zuvor hatte er einen Überblick über die derzeitige Lage im Krieg in der Ukraine gegeben.
Die tatsächliche Lage sei im «Nebel des Krieges» nicht klar erkennbar. Dennoch sei deutlich, dass es eine Eskalation bei gleichzeitiger Sprachlosigkeit zweier Seiten gebe, die über Atomwaffen verfügen.
Henken befürchtet, dass trotz allen bisherigen Zögerns vor allem von Kanzler Scholz doch noch deutsche Marschflugkörper «Taurus» an die Kiewer Truppen geliefert werden. Sie könnten von der Nordukraine aus Moskau erreichen, warnte der Friedensforscher.
Komme es zu den Lieferungen, werde Moskau seine Gegenmassnahmen erheblich ausweiten. Das wiederum führe zu einer weiteren Eskalation des Krieges.
Henken verwies darauf, dass die meisten westlichen Kommentatoren davon ausgehen, dass weitere Waffen aus dem Westen für Kiew nicht zum Sieg verhelfen, sondern nur den Krieg verlängern. Er sagte dazu:
«Ich frage mich: Wenn das so ist, weshalb werden sie denn dann überhaupt geliefert?»
Seine eigene Antwort:
«Meines Erachtens werden sie deshalb geliefert, weil man hofft, dass bei fortgesetztem Krieg Russland eines Tages unter der Kriegslast doch noch zusammenbricht. Das heisst, dass diese Waffenliegerungen den Krieg ausweiten und verlängern. Dass dies alles vor allem zu Lasten der ukrainischen Bevölkerung geht, wird im Westen dabei billigend in Kauf genommen.»
Er forderte, den Krieg stattdessen so schnell wie möglich zu beenden, und verwies dabei auf einen kürzlich veröffentlichten Friedensvorschlag von vier bundesdeutschen Persönlichkeiten. Darin hatten der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat, der ehemalige Kanzler-Berater Horst Teltschik sowie die beiden Politikwissenschaftler Peter Brandt, Sohn von Willy Brandt, und Hajo Funke Wege zu einer Friedenslösung in der Ukraine und ein Sicherheits-system in Europa aufgezeigt (wir berichteten).
Henken sagte, dieser Vorschlag müsste dringend unterstützt werden. Doch die Bundesregierung stehe dem diametral entgegen und liefere unbeirrt Waffen in das Kriegsgegbiet.
Er analysierte die bundesdeutschen Aufrüstungspläne, die zu einer «einzigartigen Situation» führten, «wie wir sie seit zwei Gegenrationen nicht hatten». So bedeuten die zwei Prozent vom BIP für Militärausgaben im nächsten Jahr 85 Milliarden Euro – «der höchste wert nach dem Zweiten Weltkrieg».
Es handele sich mit einem Plus von 33 Prozent gegenüber 2023 um den «höchsten jährlichen Sprung seit Gründung der Bundesrepublik». Allerdings sei der Zuwachs noch nicht vom Bundestag beschlossen und auch noch nicht klar, wie die Bundesregierung das Geld zusammenbekommt.
Die beiden abschliessenden Lesungen im Bundestag dazu erfolgen Ende November. Setze sich die Regierung mit ihrem Kurs durch, «ist das der Auftakt zu weiterer Hochrüstung, die sich in den Jahren ab 2025 fortsetzen soll».
Berlin habe sich der NATO gegenüber bereits verpflichtet, jeweils nacheinander eine sogenannte kaltstartfähige Heeresdivision mit bis zu 20’000 Soldaten in den Jahren 2025, 2027 und 2029 aufzustellen. Das soll dazu beitragen, die «Schnelle Eingreiftruppe» der NATO von derzeit bis zu 70’000 auf bis zu 800’000 Soldaten aufzustocken.
«Das bedeutet dann eine etwa Verzehnfachung der schnell mobilisierbaren NATO-Truppen und stellt einen ausserordentlich gewaltigen Schritt der Konfrontation gegenüber Russland dar.»
Es gebe keine zeitliche Begrenzung für die geplante Aufrüstung, die zudem sehr teuer werde, so der Friedensforscher. Kanzler Scholz habe im September der Bundeswehr die fortgesetzte Aufrüstung bis ins nächste Jahrzehnt bereits garantiert.
Spätestens ab 2030 werde die Bundesrepublik mehr als 100 Milliarden Euro für das Militär ausgeben. Um das zu finanzieren, müsse bei den sozialen Ausgaben gekürzt werden, machte Henken auf die Folgen aufmerksam.
Er rechnet mit jährlich mindestens 30 Milliarden weniger ab dem Jahr 2028, die für Sozialleistungen zur Verfügung stehen.
«Klar ist: Die Sozialausgaben, Bildung, Renten, Elterngeld und vieles mehr ist in grosser Gefahr.»
Deshalb sei es wichtig, dass viele Menschen sich an den Friedensdemonstrationen beteiligen, sagte Henken. Er rief zur bundesweiten Demonstration am 25. November am Brandenburger Tor in Berlin unter dem Motto «Nein zu Kriegen – Rüstungswahnsinn stoppen – Zukunft friedlich und gerecht gestalten» auf.
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